Von Schöngleina aus fahren wir die Landstraße entlang und biegen einmal ins Tal ab. Gleich darauf geschieht etwas Zauberhaftes. Aus dem Wald brechen weiße Bachstelzen, eine erst, dann zwei, bald fünf, schweben sie wenige Meter vor der Kühlerhaube knapp über dem brüchigen Asphalt, beschleunigen, gewinnen an Höhe, lassen sich fallen, scheinen nicht nur unseren Weg zu begleiten, die Vögel wollen uns locken, uns wie in einem Disneyfilm in eine märchenhafte Begebenheit ziehen.

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Ein gelbes Ortseingangsschild taucht auf, die Straße führt weiterhin bergab, ein erstes Haus erscheint, davor steht – ein Einhorn. Lebensgroß aus Holz geschlagen, daneben hält ein Zentaur die Weltkugel, eine Harpyie bewacht eine Flöte spielende Engelsgestalt: Wir sind in Scheiditz angekommen.

Gleich darauf fächert sich an einem mit Seerosen bedeckten Teich die Straße in drei Wege auf. Einer endet an der Wendeschleife beim Friedhof, ein zweiter beim Geflügelhof, der dritte verliert sich bei der Wasserquelle im Wald.

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Uns wird bewusst: Hier gibt es keinen Weg hinaus. Wir sind in einem geschlossenen Tal, einem Kessel eher angelangt. »Scheiditz ist so klein, das kannst du zuscheißen«, wird uns später einer der Bewohner sagen, so wurde er früher in der Schule gehänselt.

Scheiditz ist die zweitkleinste Gemeinde Thüringens, die sich selbstverwaltet: 24 Häuser, 54 Einwohner. Napoleon soll damals mit seiner Armee den Ort nicht gefunden haben. Hier gibt es keine Kirche, keine Schule, kein Geschäft, lange Zeit keinen eigenen Friedhof. Auch die Gleise – der schmale Bach, der sich durch die Talmulde schlängelt – ist klein. Alle paar Jahre steigt sie mit schwerem Schlamm über das Ufer.

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Die Alten sagen, dass dies in letzter Zeit häufiger geschehe. Möglicherweise liegt es an den fehlenden Sickergräben auf den hohen Weiden. Früher zogen die Bauern auf der Flur Furchen. Heute hat eine Agrargenossenschaft die Bewirtschaftung übernommen. Der Verbund arbeitet effizient. Auf den Traktoren sind GPS-Sender angebracht, welche zentimetergenau die Grundstücksgrenzen anzeigen. Jeder Quadratmeter erhöht den wirtschaftlichen Ertrag. Für Sickergräben bleibt da wenig Platz.

Wir treffen Agnes. Sie ist sechzehn und seit siebzig Jahren die Erste, die in Scheiditz geboren wurde. Mit jeder Faser des Körpers ist ihr anzumerken, dass sie von hier weg will: in die Welt, in den Norden, nach Skandinavien vielleicht. Noch besucht sie die Schule in Jena. Um dorthin zu kommen, braucht sie den Bus. Und vor allem die Eltern. Abends weggehen, mit den Freunden in der Stadt sein, ist ihr nur in Ausnahmefällen möglich. Und nur im Ausnahmefall kommen die Freunde nach Scheiditz.

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Dass der Bus zumindest drei Mal am Tag am Dorfplatz beim Weltkriegsdenkmal hält, ist nicht selbstverständlich. Früher mussten die Kinder zur Haltestelle an der Landstraße laufen und noch früher einige Kilometer zur Schule ins Nachbardorf. Der Weg dahin war ein kaum ausgetretener Pfad, der über die Feldflur und durch den Wald führte, Schul-Kirchen-Leichen-Weg hieß er, denn wer zum Gottesdienst in die Kirche wollte, musste nach Albersdorf, selbst der Friedhof war einmal dort.

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Nicht nur für die junge Agnes, auch für die Älteren ist Wegkommen eine entscheidende Frage. Wer zum Arzt oder Einkaufen will, ist auf Kinder und Enkelkinder angewiesen. Im Prinzip kann in Scheiditz nur leben, wer ein Auto besitzt oder jemand hat, der einen fährt.

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Vor ein paar Jahren drehte ein Fernsehteam einen Bericht über Scheiditz – als angeblich drittältestes Dorf Deutschlands. Die beiden Erstplatzierten waren nur erstplatziert, weil dort Altenheime standen. Als uns davon erzählt wird, klingen die Stimmen auch ein wenig stolz, vielleicht darüber, bei etwas weit vorn dabei gewesen zu sein. Und im Scherz fügen sie hinzu, dass die Kinder das nun vermasselt haben. In den letzten Jahren sind Familien aus Jena hergezogen, der Altersdurchschnitt ist gesunken.

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Schnell wird uns bewusst, dass das mit den Alten und den Jungen, dem Bewährten und dem Neuen, wichtige Themen von Scheiditz sein könnten. Es ist schwierig, das in Worte zu fassen, weil niemand das direkt so sagt, wir aber viele Geschichten erfahren, Ansichten, die sich widersprechen und dabei oft ergänzen.

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Im Grunde genommen geht es darum, dass sich in Scheiditz über die Jahrhunderte Strukturen gebildet haben; Familien haben Vorrechte besessen, man hat zusammengearbeitet, gemeinsam etwas für das Dorf getan, Traditionen haben sich herausgebildet, Fehden wie Freundschaften verfestigt. Und es geht darum, inwieweit die Hinzugekommenen sich da einfügen können, müssen oder wollen.

Uwe Appelt ist der Bürgermeister von Scheiditz. Nicht selten hat er einen Spruch auf den Lippen (»Wir leben zwar im Tal, aber nicht hinterm Mond«), das Smartphone heißt bei ihm »der Schlaumeier«. Er hat sich und das Dorf im Blick und wenn etwas getan werden muss, macht er das schon klar: »Wir freuen uns über junge Leute. Aber wenn die den Kopf nicht aus dem Haus stecken, können wir die nicht brauchen«, sagt er. Obwohl wir zum vereinbarten Treffen deutlich verspätet erscheinen, führt er uns geduldig und mit zahlreichen Erklärungen viele Stunden durch den Ort, schließt das Gemeindehaus auf und überlässt es uns für die Zeit, die wir hier sind, ohne jeden Vorbehalt.

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Als wir kommen, hakt es an der Gleise. An einer Stelle ist der Zufluss verstopft, der eine für alle zugängliche Wasserstelle am Löschteich speist. Uwe Appelt bittet einen der Scheitzer, den Bach abzulaufen und den Grund der Blockierung ausfindig zu machen. Er fragt ebenso freundlich wie nachdrücklich. An diesem Tag wird das Problem nicht behoben. Der Bürgermeister muss nachsetzen, dann etwas energischer. Bei der Abreise fließt das Wasser wieder.

Im hinteren Teil des Löschteichs steht das Schilf hoch. Seerosen blühen, ab und an springt ein Fisch auf die Blätter, windet den glitschigen Körper so lange, bis er wieder zurück ins Wasser gleiten kann. Libellen kreisen, Schwalben stürzen sich im Tiefflug hinab und schöpfen mit ihren Schnäbeln grünstichiges Wasser ab.

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Seit kurzem steht am Löschteich eine Waldschänke, eine aus Holz gebaute, überdachte Sitzgruppe mit Tisch. Am ersten Abend werden wir von Uwe Appelt dorthin eingeladen. Er hat Holger, den Pilzberater, gebeten, für uns eine seiner Spezialitäten zu kochen. Es gibt Suppe aus Erbsenstreulingen, die sogenannten böhmischen Trüffel, die als seltene Pionierpilze karge Gebiete besiedeln und oft in Bergbaufolgelandschaften vorkommen. Holger hat sie in Tschechien gesammelt.

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Auf dem Holztisch warten selbstgebackene Brote und in Butter geschwenkte Semmelbröseln. Hefeweizen wird in tiefe Gläser gegossen. Zusammen mit ihren Frauen sitzen der Bürgermeister, der Jäger, Holger und Gregor, der am Geräusch der in Scheiditz einfahrenden Autos schon deren Besitzer erkennt; er muss da nicht mal mehr hinsehen.

Sie reden über die Luftschnapper aus Weißenfels, die zum Pilzesammeln in die Gegend kommen. Über eine Verfolgungsjagd, die in Scheiditz endete; als der Gejagte realisierte, dass er aus dem Tal nicht herauskommt, ließ er das Auto im Wald stehen und flüchtete zu Fuß weiter. Er wurde nie gefasst. Über die Schallkanonen bei Schöngleina reden sie, mit denen die Stare aus den Kirschen gejagt werden. Vom Anbau von Kiwis, Auberginen und Zitronen und wie eine Wurzelheizung das Wachstum anregt. Von Uwes sechzig Harzfeuertomatenpflanzen und dass er in der Stadt gerade mal drei Pflanzen auf dem Balkon halten könnte. Sie reden darüber, dass die Städter möglichst naturbelassenes Obst und Gemüse haben wollen, aber meckern, wenn der Apfel eine faulige Stelle hat.

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Vor allem reden sie über die Zukunft und damit das Altern. Erstaunlicherweise sind sich fast alle einig darüber, dass sie im Alter nicht mehr in Scheiditz sein wollen. Die Kinder sind aus dem Haus und werden mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zurückkehren. Allein könnten sie die großen Höfe nicht führen. Sie entwerfen Szenarien: Nach Bürgel oder Stadtroda ziehen, Orte, an denen eine Infrastruktur existiert, vielleicht zusammen eine Wohngemeinschaft aufmachen oder gleich zu den Kindern in die Ferne gehen.

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Die Geschichte von dem achtzigjährigen Scheitzer wird erzählt, der sich abends schlafen legte und am nächsten Morgen tot war, ohne Schmerzen gestorben, ein arbeitsames, erfülltes Leben hinter sich, das Ende ohne Leid. »Das letzte Hemd hat keine Taschen« sagen sie und meinen damit, dass man im Jetzt leben soll. Und rätseln, wann das gute Jetzt vorbei sein könnte, wann der passende Moment für das Verlassen des Dorfs wäre.

Zeitsprung, einen Tag weiter. Wieder die Teichschänke, wieder am Abend. Diesmal kommt eine andere Gruppe zusammen. Es sind die Jüngeren des Ortes. Marko, der Brandwart ist dabei, ein Computerspezialist, ein Hundezüchter, das junge Paar aus Jena, das den ehemaligen Konsum ausbaut und in einem Monat dort einziehen möchte. Jeden Sonntag ein Treffen, das hat sich so ergeben. Sie sprechen von Netflix und wie sich Filme auf Scheunenwände beamen lassen, von einem kleinen Technofestival, das sie früher im Garten hinter dem Haus veranstaltet haben, vom Bierbrauen und dem Züchten alter Hühnerrassen.

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Es sind Aktivitäten, die der Gesellschaft am Tag zuvor möglicherweise fremd erscheinen. Und es sind Vorhaben, die wichtig sind für die Sonntagsgruppe, Projekte, die von ihnen selbst ausgehen. Natürlich gibt es Widerstände, muss es die geben, Reibungen, Kopfschütteln. Das Oktoberfest ist ein gutes Beispiel. Anfangs die Bedenken, heute ist die Vorfreude bei den meisten im Ort groß.

Neben der Schänke am Löschteich steht das historische Spritzenhaus, ein ziegelsteingemauertes Gebäude mit Wetterfahne auf der vorderen Turmhaube und alter Einsatzglocke. Investoren wollten es mal kaufen und in Japan wiederaufbauen. Es ist klein, die Einsatzkleidung hängt bei den Kameraden zuhause. Die Freiwillige Feuerwehr Scheiditz nutzt alte Schutzanzüge. Die neuen, die eigentlich verpflichtend gelten, sind zu teuer für das schmale Dorfbudget. Auch Atemschutzmasken haben sie in Scheiditz nicht. Um die dreitausend Euro würden die mit Lehrgang, TÜV und ständiger Überprüfung kosten, das ist unmöglich zu bezahlen. Im Dorf schimpfen sie über die Verordnungen, die vom Land, der Regierung, der EU erlassen werden. Weltfremd seien diese und ohne Bezug zur Praxis. Von den Bestimmern habe niemals jemand einen Fuß nach Scheiditz gesetzt, um zu schauen, ob die Gesetze umsetzbar seien.

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Da ist eine große Wut auf Gesetzgeber, die keine Rücksicht auf die Besonderheiten eines solch kleinen Orts nehmen. Und zugleich ist da die Information, dass das Gemeindehaus mit Mitteln der EU gefördert wurde, die Tatsache, dass nach der Wende viele Dorfbewohner ihre Anwesen mit öffentlichen Geldern sanieren konnten. Beides steht scheinbar unversöhnlich nebeneinander; das Gefühl, gegängelt zu werden und die Hilfe, die dem Dorf konkret genutzt hat.

Uwe Appelt überlässt uns die Dorfchronik. Es ist ein in vielerlei Hinsicht erstaunliches Werk. Auf fast zweihundert Seiten hat ein ehemaliger Landschullehrer Informationen zusammengetragen; Namensfindung, landwirtschaftliche Produktion, Nutzflächenverteilung, Wahlergebnisse, Lieferverpflichtungen der Bauern zu Kriegszeiten, wer in den drei großen Kriegen eingezogen wurde und gefallen ist, Entwicklung der Dorfbevölkerung: Höchstzahl 147 im Jahr 1947 mit der in nicht wenigen Fällen erzwungenen Aufnahme von Kriegsvertriebenen. Auch Gedichte finden sich darin, schwarze-weiße Fotos, die Frauen und Männer gebeugt auf Kartoffeläckern zeigen.

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Uns scheint diese Geschichte präsent, mal subtil, mal offensichtlich. Es fällt auf, dass die Gehöfte, die Drei-Vier-Seitenhöfe auf der einen Straßenseite wesentlich größer sind als auf der anderen. Haus 5 fehlt, die Scheune wurde vor einigen Jahrzehnten geschliffen, wir hören unterschiedliche Versionen über die Ursache.

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Wir erfahren Geschichten von früher, Geschichten von der alten Dorfhexe. »Die haben einen Drachen«, sagt man im Holzlandkreis zu denen, die angeblich Blut melken oder anhand von aus Schornsteinen steigendem Rauch Prophezeiungen aussprechen können. Die den Drachen haben, verfügen über den bösen Blick und damit die Macht, Menschen mit Flüchen zu belegen. Und jedes Dorf brauche eine Hexe, heißt es, sonst stimme mit dem Dorf was nicht.

Im Dorf wird über den Künstler gesprochen, der mit dem Einhorn vor dem Haus. Er schläft, wenn das Dorf längst erwacht ist. Und arbeitet anders als die Scheitzer spät in der Nacht – malt, formt, gestaltet Holz, oft mit der lauten Motorsäge. Ein Konflikt ist unvermeidlich.

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Als wir ihn in seinem Atelier besuchen, erzählt er, wie er sich mit zwölf Jahren das Bein brach und wochenlang im Krankenhaus lag. Die Mutter brachte ihm Bilder von selbstgezeichneten Ponys mit. Er malte sie alle ab. Seither gehört in jedes seiner Bilder ein Pferd. Die Grabmale der Eltern hat er selbst aus Holz gefertigt, Tauben sind darauf zu sehen.

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Früher ist er oft mit Staffelei raus, um die Augen unter dem freien Himmel und nicht an Fotos zu schulen. Scheiditz hat er unzählige Male gezeichnet, es sind farbige, feine, manchmal naiv erscheinende Ansichten des Dorfs. Auf den Bildern hat er die Wirklichkeit leicht verschoben, die Umgebung in Details angepasst, dafür Höfe und Häuser versetzt. Und für einige im Dorf hat er deren Häuser gemalt. Als wir ihn nach dem schönsten Blick auf Scheiditz fragen, zuckt er bedauernd die Schultern und erklärt, dass es diesen nicht mehr gebe, seit einigen Jahren stehe auf dem Grundstück ein Wald, den habe der ehemalige Bürgermeister dort gepflanzt.

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Wald und damit Holz ist mitten im Saale-Holzland-Kreis allgegenwärtig. Vor vielen Häusern sind Holzscheite zu Stapeln aufgeschichtet, jeder Stapel in eigener Schichtung und Struktur. Nicht wenige der Bewohner haben auf den Hängen Grundstücke, die viele Holzmeter machen sollen. Der Holzbock ist hier zuhause, der Landkreis gehört zum erhöhten Zeckenrisikogebiet. Und früher war es so: Wenn der Blitz in die Dorfweide einschlug, bekam der Ärmste im Dorf den Bruch. Und wer der Ärmste ist, das wusste im Dorf immer jeder.

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Denn jeder kennt die Situation des anderen. Jede könnte über jeden etwas erzählen. Während wir den Geschichten zuhören, verknüpfen sich Gehöfte, Fluren, Familien durch die Jahre. Es wäre vermessen anzunehmen, wir könnten in so kurzer Zeit annähernd die Zusammenhänge verstehen. Aber es sind Namen, die immer wieder genannt werden, Erzählungen – aus ähnlichen und sehr unterschiedlichen Blickwinkeln, grundsätzliche Einstellungen zum Leben, zum Außen, die Bestand zu haben scheinen.

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Hier existieren Freundschaften, die lange gepflegt werden, auch Narben, die vor Jahrhunderten zugefügt wurden, tiefe Verletzungen, Ungerechtigkeiten, Vorteilsnahmen, manchmal zum Wohl der Gemeinschaft, manchmal aus Eigennutz, sei es aus der Zeit Napoleons, der Bauernbünde, der LPG, der Nachwendezeit. Es gibt Gewinner und Verlierer, jene, denen das Haus zur Last geworden und jene, denen es traute Zuflucht ist. Familien geben den Ton an, verlieren an Einfluss, es gibt die Macher, die Alteingesessenen, die Zugelatschten, die Sonderlinge, sie haben ihren Platz durch Glück oder Pech zugewiesen bekommen, durch Eigenleistung, Tradition oder Schicksalsschläge.

Zurück zu den alten und neuen Scheitzern. Viele sind in den letzten Jahren hergezogen. Das Wohnen im nahegelegenen Jena ist teuer. Eine Familie kam weit vor der Wende, eine andere direkt danach, andere kauften vor wenigen Jahren Grundstücke, das junge Paar bezieht in einigen Wochen den ehemaligen Konsum. Es sind Promovierte dabei, Selbstständige, Angestellte, Doktoren, Arbeiter. Alle sind sie die Neuen, selbst wenn sie schon ein halbes Leben hier sind.

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Einmal hören wir: Wenn das man aus so was macht man hier nicht verschwindet, ist eine Änderung eingetreten. Aber wie sehen Traditionen aus? »Saufen ist keine Tradition«, sagt einer. Biertrinken und Bratwurst essen finde sich in jedem Thüringer Dorf. Man müsse eine Beziehung zum Ort schaffen, eine Flurbegehung beispielsweise, wenn die Erwachsenen mit den Kindern losziehen und sie Grenzsteine ausgraben lassen, damit die Kleinen die Größe ihres Heimatorts kennenlernen, die Grenzen begreifen, von denen sie umgeben sind, ein Gefühl für den Raum bekommen, für die Zeit.

Zugleich sind Zusammenkünfte wie Glühweintrinken oder Walpurgisnacht ebenso wichtig: zusammenkommen, um Essen und Neuigkeiten zu teilen. Wir können das live beobachten: Die Neuen vom Konsum setzen sich an die Teichschänke dazu. Ihnen wird Bier angeboten, neugierig nachgefragt, wie der Ausbau laufe. Sie werden willkommen geheißen, ihnen wird die Hand gereicht. Und zugleich kündigt der Brandwart an, dass er in zwei, drei Jahren, wenn sie sich eingelebt haben, nachfragen wird, ob sie nicht beim Dorfklub mitmachen wollen, ob es nicht Interesse am Beitritt zur Feuerwehr gebe.

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Die Feuerwehr sorgt dafür, dass im Notfall alles bereit ist, wenn die Löschzüge aus den größeren Orten hinzustoßen. Einer macht eine Schluckbewegung, sagt, die Feuerwehr sei zum Löschen vom Brand da. Allgemeines Lachen. Aber sechsmal im Jahr findet eine Übung statt und danach sitzen sie an der Schänke zusammen und sprechen über diese Übung. Und vieles andere. Darum geht es.

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Wir fragen, was den Ort zusammenhält. Marko, der Brandwart sagt, dass es der Dorfplatz am Löschteich sei. Er philosophiert weiter, spricht von einer Sonne, um die sich Planeten drehen. Eigentlich spricht er nicht von einem Ort, sondern von Menschen. Es gibt Menschen, die das gemeinsame Leben im Ort voranbringen, die es letztlich erst möglich machen; im Winter morgens in der kalten Dunkelheit Schneeräumen auf der Dorfstraße, das Klopfen auf Schultern, das Lob bedeutet und zugleich Ansporn sein soll, gemeinschaftliches Kochen, das unangenehme Fingerlegen in Wunden.

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In jeder Generation gibt es nur wenige, die für bestimmte Aufgaben geeignet sind. Und alle Rollen wollen besetzt sein. Gerade in so einem kleinen Ort – 24 Häuser, 54 Einwohner – kommt es auf jeden an. Wenn eine, wenn einer fehlt, bricht etwas Entscheidendes weg. Jeder hat da seine eigene Strategie. Ein Polizist hat zehn Jahre in Scheiditz gewohnt, den hat niemand je zu Gesicht bekommen. Ein zugezogenes Paar lädt regelmäßig Familien zum Essen ein. Andere bauen an ihrem Haus. Andere versuchen mitzugestalten, treffen dabei auf Widerstände, eben auf die jahrhundertealten Traditionen und beißen sich auch daran die Zähne aus.

Manche machen ihren Frieden damit. Zum Beispiel Familie Lutter. Hinter ihrer Grundstücksgrenze beginnt eine andere, unerwartete Welt; ein britisches Landhaus vielleicht, Blumen auf den Plateaus, Hochbeete mit Salat, die Bibliothek mit englischer Literatur aus vielen Jahrhunderten. Die Lutters wären geschaffen für eine Außenseiterrolle im Dorfleben; springen nach der Sauna nackt in den Löschteich, laden walisische Künstler ein, veranstalten Lesungen, lauter Dinge, die nicht zu einem bäuerlich geprägten Ort zu passen scheinen.

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Niemand verliert ein schlechtes Wort über sie. »Wenn ein Verrückter durch den Ort läuft, dann schicken die den zu uns«, sagen die Lutters. Nicht ohne Stolz. Sie reden von den Nachbarn als »zauberhafte Menschen«, begeistern sich für deren Eigenheiten. Und fügen an: »Natürlich sind wir mit einigen im Ort schon aneinandergerasselt. Angebrüllt haben wir uns.« Aber luden danach zum walisischen Kunstabend ein. Im Gegensatz zu vielen eingesessenen Scheitzern ist ihnen klar, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollen: in Scheiditz. Zwei Gräber auf dem kleinen Friedhof sind gepachtet.

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Ihr Sohn sitzt abends bei der Teichschänke, sie selbst schauen kurz vorbei, wechseln mit dem Brandwart einige Worte. Dann gehen sie Hand in Hand Richtung Wald, ein Spaziergang wie an jedem Abend. Der Mond steigt auf, der Jäger sagt, morgen sei Vollmond. Auf einem Baumwipfel hat sich ein Reiher niedergelassen.

Es wäre fatal anzunehmen, dass alles gegeben ist und sich nichts ändern wird, selbst in einem stillen Tal wie hier. Und irgendwie scheint uns, dass eine solche Veränderung gerade geschieht, schleichend, massiv, unumkehrbar. Viele sind zugezogen und viele Kinder der Alteingesessenen sind weggezogen. Bald werden die Neuen in der Mehrzahl sein, vielleicht sind sie das schon.

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Das muss nicht zwangsläufig etwas bedeuten. Doch auch wenn für die Neuen die uralten Strukturen präsent sind, sind es für sie letztlich nur fremde Erzählungen. Sie können neue Geschichten schreiben; nicht unbedingt bessere, aber eben eigene, die ungebunden sind vom Vergangenen. Und zugleich braucht es für das Zukünftige dieses Vergangene: Es braucht den alten Löschteich, damit dort die neue Teichschänke stehen kann, es braucht die Scheunenwände, damit Beamer darauf Netflix zeigen können, es braucht das Wissen, wie Bier vor hundert Jahren gebraut wurde, so wie es Feste braucht, auf denen man es heute gemeinsam trinken kann.

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Und es braucht ein Bild von einem Dorf, in dem man leben will, die Frage, ob es mehr sein sollte als eine kommunale Verwaltungseinheit. Ansonsten würde sich Scheiditz zu einem Ort wandeln, in dem jedes der 24 Häuser für sich steht und die Seerosen im Löschteich solange malerisch aussehen, bis das Wasser kippt, weil niemand den Zufluss der Gleise säubert.