Uns allen war ein Winter versprochen. Und tatsächlich – an einem der beiden Wochenenden, an denen im Jahr noch Schnee fallen soll, brechen wir in die Rhön auf. Doch die Felder sind kahl, der Himmel bleibt hell. Es ist warm, viel zu warm für diese Zeit, selbst bei Geisa und Schleid.

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Erst als wir ins Kohlbachtal abbiegen, als wir die beiden Ortschaften Kranlucken und Zitters passiert haben, als sich schon das Talende ankündigt, dort im Kessel, wo Gerstengrund liegt, kommt der Schnee, bedeckt die Hänge und versiegelt die Böden. Die Landschaft wird monochrom und still dazu.

Kurz vor Ortseingang teilt sich die Straße, die nach Gerstengrund führt, auf. Zwei Wege führen ins Dorf hinein. Eine Art langgezogenes Trapez ergibt sich so, an dessen Seiten sich etwa zwanzig Häuser, Höfe und Scheunen befinden, große Anwesen darunter.

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Eine dieser Trapezspitzen ist das Zentrum, denn dort steht die Maria-Hilf-Kirche: ein erst vor wenigen Jahren errichtetes Gotteshaus. Weitere Orte mit religiöser Bedeutung verteilen sich im Dorf: eine Mariengrotte, ein hölzernes Kruzifix, ein Bildstock, eine Marienfigur, in Stein geschlagene Gebetsverse.

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Diese Zeugnisse des Glaubens umschließen Gerstengrund. Um das besser verstehen zu können, braucht es einen Sprung, einige Jahrhunderte in die Vergangenheit zurück. Einst war hier nur der Gersthof; das Gut eines katholischen Bauern. Als zu Zeiten der Reformation das Land protestantisch wurde, flüchteten Katholiken ins Kohlbachtal. Der Bauer nahm sie auf, gab ihnen Land, eine Siedlung entstand. Der Glaube war ursächlich für die Ortsgründung.

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In DDR-Zeiten lag Gerstengrund unmittelbar an der innerdeutschen Grenze und damit im streng bewachten Sperrgebiet. Zutritt war nur mit Passierschein möglich. Auswärtige mussten ihr Kommen ankündigen, Schlagbäume trennten die Menschen. Die nahe Umgebung war unpassierbar, Berge und Wälder in unmittelbarer Umgebung nicht mehr betretbar. Und wieder sammelte sich das Dorf im Glauben, wieder lag der Ort am Ende eines Tals und damit am Rande einer Gesellschaft, abgeschieden und auf sich geworfen.

Mehrmals wird uns im Vorfeld angekündigt, dass das Dorf zusammenhalte und beisammen stehe. Gerstengrund war Objekt mehrerer, zum Teil hämischer Zeitungsartikel. Die Erfahrung mit dem Außen wird nicht unbedingt nur als gut wahrgenommen. Unsere Anfrage für ein Kommen wird mit Ablehnung begegnet, man fürchtet weiteren Schaden für das Zuhause.

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Doch wie zwei Straßen in den Ort führen, muss es auch für uns zwei Wege hinein geben. Wir nehmen Kontakt mit drei Pfarrern auf, suchen kirchlichen Beistand, um so eine geöffnete Tür ins Dorf zu finden. Tatsächlich erweist sich dieser Weg schließlich als erfolgreich.

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So treffen wir uns zuerst mit Pfarrer Kämpf im nahen Schleid. Er stammt aus der Rhön, war lange weg und ist erst seit wenigen Monaten wieder hier, um die umliegenden Gemeinden zu betreuen. Die Leute nennen ihn Pastor, mit langgezogenem o, obwohl Pastor eigentlich einen selbständigen, vom Bischof beauftragten Priester meint. Er weiß eine Menge über die Geschichte der Rhön zu berichten, ordnet Land und Begebenheiten in historische Zusammenhänge ein. Über die DDR-Zeit spricht er, vom Kommunismus erzählt er und wie der Glaube damals ein Halt gewesen sei, der half, all das Schlechte zu ertragen, als Höfe geschleift und Menschen vertrieben wurden.

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Er spricht von Eigenheiten, die jedes Dorf habe und auf die er Rücksicht nehmen müsse. Von der Kirche in Gerstengrund schwärmt er, anders als viele moderne Kirchenbauten wirke das Haus in Gerstengrund warm und meint, dass der gemeinsame Bau das Dorf zusammengeschweißt habe, dass die Kirchweihe für die Region etwas Besonderes gewesen sei.

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Einmal spannt er uns auf die Folter. »Gut, dass Sie sitzen, Sie werden nicht glauben, was Sie gleich hören werden«, sagt er und wartet einige Kunstpausen lang, bis er uns davon berichtet, dass die Sedilien in der Gerstengründer Kirche aus der Marienvesper stammen, die Benedikt XVI. vor einigen Jahren im Eichsfeld hielt. Sedilien sind die Stühle im Altarraum. Wer heute die Kniebank nutzt, kniet dort, wo einmal der Papst kniete.

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Als wir erzählen, dass uns das Dorf wie eine Phalanx erscheint und es uns nicht möglich war, trotz vieler Versuche mehr als einen Termin zu vereinbaren, greift er nach dem Telefon. Er ruft Gemeindemitglieder an und bittet mit kräftiger Stimme um ein Treffen. Eigentlich sind es keine Bitten. Sondern Verhandlungsgespräche, die er führt, jemand, der große Menschenkenntnis hat und weiß, wie er sein Gegenüber ansprechen muss, um ihn für sich einzunehmen. Die Reaktionen sind zögerlich, doch der Pastor verhandelt geschickt. Er ist eine Autorität. Sein Wort hat Gewicht. Am Ende steht ein Termin. Die Tür hat sich ein klein wenig geöffnet.

Als wir dann tatsächlich in Gerstengrund stehen, der Ort, von dem wir im Vorfeld soviel gehört und gelesen haben, bleibt ein mulmiges Gefühl. Auf der Straße ist niemand zu sehen, nur mehrere große Traktoren fahren an uns vorbei. Die Fahrer heben kurz die Hand zum Gruß. Aber klar, ist auch kalter Winter. Wer außer uns sollte sich da draußen länger aufhalten wollen?

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Zum Glück haben wir einen Termin. Wenn zwei Straßen in einen Ort hineinführen, muss es auch zwei erste Häuser geben. Eines davon gehört Diana und Matthias. Sie empfangen uns mit offenen Armen und zeigen großes Interesse, wollen wissen, woher wir kommen, was wir vorhaben. Diana stammt aus Gerstengrund. Zum Studium ging sie nach Weimar, lernte dort an der Bauhaus Universität Bauingenieurin. Anschließend kehrte sie in ihr Heimatdorf zurück.

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Heute arbeitet sie in einem Architekturbüro im Nachbarort. Matthias hat seinen Meister im Heizungsbau und besitzt eine eigene Firma. Neben dem Haus von Dianas Eltern bauten sie sich ein eigenes Heim. Diana berechnete dafür die Statik. Zwei Söhne und eine Tochter haben sie. Es gibt viele Kinder in Gerstengrund, vierzehn Kinder bei knapp siebzig Einwohner. Auch hier belastet die Kindergartenabgabe die Gemeinde stark. Einen öffentlichen Spielplatz gibt es nicht. Dafür haben die Kinder den Wald, schätzen besonders den blauen Bauwagen am Schrottplatz als Rückzugsort.

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Auf eine Frage, die uns lange schon umtreibt, finden wir hier eine interessante Antwort: Warum scheinen in den Dörfern die Männer so viel präsenter zu sein als die Frauen? Als wir die Frage an Diana richten, überlegt sie. Sagt dann, dass die Arbeit, die von den Frauen erledigt wird, keine ist, die Aufschub duldet: Kochen, Wäsche waschen, Kinder betreuen. Das muss jeden Tag getan werden; ein ständiger Kreislauf, der viel Zeit in Anspruch nimmt.

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Einige der Arbeiten, die traditionell die Männer erledigen, können hingegen vertagt werden. Ob etwas heute oder morgen geschweißt wird, spielt eine weniger entscheidendere Rolle. Das Abendbrot aber muss am Abend auf dem Tisch stehen. Deshalb fällt es den Männern auch leichter, Freiräume für sich zu schaffen. Zudem arbeiten sie oft draußen, während die Arbeit der Frauen drinnen stattfindet.

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Anschließend gehen wir für ein Foto vor die Tür. Die Familie stellt sich vor ihr Haus. Im Hof stehen unzählige Spielsachen, Fahrräder, Kettcars, große Spielzeugbagger. Die Kinder schnappen sich ihre Schlitten und laufen über die Straße. Sie wachsen die Kufen und stürzen sich dann den schneebedeckten Hang hinab. In der Ferne läutet die Kirchenglocke, es ist zwölf Uhr.

Die Glocke hängt außerhalb des Kirchengebäudes. Drei Mal am Tag schlägt sie, sechs, zwölf, achtzehn Uhr. Die Kirche sei eine Sensation, hören wir von verschiedenen Seiten. 2011 errichtete die Gemeinde an der Stelle der kleinen alten Kapelle ein neues Haus.

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Auch wenn es viele Spenden gab, war der Bau letztlich nur durch Eigenleistung möglich. Im 3-Schicht-System arbeiteten die Frauen und Männer des Orts. 2012 wurde die Kirche eingeweiht, viele hundert Besucher kamen. Formal gehört die Maria-Hilf-Kirche keiner Kirchgemeinde an, sondern wird von Gerstengrund selbst verwaltet, was auch bedeutet, dass der Ort die Kosten selbst tragen muss.

Jeden ersten Samstag im Monat findet hier ein Gottesdienst statt. Diesmal ein Wallfahrtsgottesdienst. Dafür kommen Besucher auch aus den umliegenden Orten nach Gerstengrund. Vierzig Tage nach Weihnachten wird Mariä Lichtmess gefeiert. Ein Grund dafür ist ein althergebrachtes Reinigungsritual. Im Alten Testament galt eine Frau vierzig Tage nach der Geburt eines Sohnes und achtzig Tage nach Geburt eines Mädchens unrein und musste im Tempel deshalb Opfergaben darbringen. In Gerstengrund weiht der Pater heute Kerzen und spricht den Blasiussegen, der vor Halskrankheiten schützen soll.

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Auf der Straße vor der Kirche parken einige Autos, deutlich mehr, als sonst im Dorf zu sehen sind. Vielleicht siebzig Besucher kommen in die Kirche. Einige eilen hoch auf die Empore, der Großteil geht zu den Bänken, nicht wenige Plätze sind fest vergeben. Vor dem Setzen ein Kniefall in Richtung des Tabernakels, in dem der wahre Leib Christi in Form von Hostien verwahrt wird, ein Senken des Kopfes, ein Bekreuzigen. Lange, bevor der Pater erscheint, stimmt ein Gemeindemitglied einen Psalm an, den der Rest der Gemeinde wiederholt. Eine Viertelstunde dieser Wechselgesang, ein mächtiger Eindruck, wenn das Dorf mit einer Stimme zu sprechen scheint, die immergleichen Worte, wiederholt und wiederholt, wie eine Wand, es gibt ein dahinter und ein davor.

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Halb neun kommen erst die beiden Messdiener, dann der Pater hinter dem Kreuz hervor. Diesmal hält Pater Simon die Messe. Er stammt aus Indien und gehört zum Orden der Missionare des heiligen Franz von Sales. Dieser schickte ihn zuerst nach Tansania und Kenia. Vor vier Jahren wurde er nach Deutschland berufen und kam letzten August in die Rhön.

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Er sagt, dass Alltag und Messe zusammengehen sollten. Deshalb baue er gern Anekdoten in seine Predigten ein. »Wenn man draußen lacht, soll man das auch drinnen tun«, meint er. Im Dorf reden sie mit warmen Worten über ihn, schätzen seine Sprüche. In seinem Orden ist es üblich, nicht länger als zehn Jahre in einem entwickelten Land zu bleiben. Dann wird er zurück nach Indien gehen.

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Jeder im Raum ist mit dem Ablauf der Messe vertraut: wann wird sich erhoben, wann gekniet, wann wird das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis gesprochen. Die Älteren kennen das seit vielen Jahrzehnten, die Kinder werden von klein auf herangeführt; die erste Beichte, der Weiße Sonntag. Die Worte der Lieder sind für jeden klar, ebenso die der Gebete. Es hat etwas sehr Gewaltiges, wenn alle in einem Raum dasselbe tun und das mit großer Überzeugung. Einerseits scheint es auf mühelose Weise sehr folgerichtig zu sein, in einer Masse aufzugehen und sich ihr anzuvertrauen. Eine Gemeinsamkeit über alle Unterschiede hinweg besteht so – der Niedrigste kniet neben dem Höchsten, alle ordnen sich einer Autorität unter.

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Und zugleich schließt das aus. Ich, der nicht katholisch glaube, kann zwar geduldet sein, aber nicht dazugehören. Dabei wird mir freundlich begegnet, es ist mir gestattet, an diesem Ort zu sein und dieser intimen wie öffentlichen Glaubensbekundung beiwohnen. Meine Banknachbarin hält mir das Gesangsbuch hin, gemeinsam singen wir, sie braucht die Texte nicht. An einem Punkt der Messe wenden wir uns den Menschen in den Bänken vor und hinter uns zu, wir reichen einander die Hände und wünschen uns »Friede sei mit dir«. Eine herzliche Geste, die mich berührt, die mir sagt: Ich bin willkommen.

Von den Ritualen, auf die es ankommt – das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, das Abendmahl – bin ich ausgeschlossen. Natürlich. Ich glaube nicht, ich will nicht das Blut Christi trinken, seinen Leib in mich aufnehmen. Und dann muss sich die Gemeinschaft, die eine Stimme, zwangsläufig gegen mich wenden.

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Und wie ist es mit denen, die Samstag Vormittag nicht zur Messe erscheinen? Nicht alle aus dem Dorf sind hier. Wie ist es, an einem Ort zu leben, an dem der Glaube eine solch zentrale Rolle spielt, in dem viele Angelegenheiten darüber geregelt werden? An mehreren Stellen hören wir, dass Politik und Kirche in Gerstengrund eins sei, dass beides nicht ohne das andere zu denken sei. Wir fragen, weshalb einige nicht zur Messe gehen. Die Antworten kommen zögerlich. Von knapper Zeit ist die Rede, dass sich die Interessen anders entwickeln haben. Von fehlendem Glaube spricht niemand.

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Mir bleibt vieles unerklärlich. Als Pater Simon mit uns über den Islam spricht, bringt er die Unterschiede zum Katholizismus zur Sprache. Nicht die Gemeinsamkeiten – beides sind monotheistische Religionen mit langer, widersprüchlicher Geschichte, beide Religionen haben Rituale gefunden, die helfen, Zusammenhalt zu schaffen – sondern das Extreme, das Gewalttätige, das Ausschließende. All das ist auch beiden Religionen zu eigen. Bei allem Frieden, bei allem Wohlklang durch die Orgel, der Lebensfreude, die der Pater versprüht, schaue ich mit einem klammen Gefühl auf die Kirche, ein Ort, der Gemeinschaft schafft, der an diese Gemeinschaft Bedingungen stellt, ein Ort, der all jene, die er nicht einschließt, ausschließt.

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Eine wissenschaftliche Studie hat gefragt, was zuerst da war: die Götter oder die Gesellschaft. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass in der Regel erst komplexe soziale Strukturen den Bedarf für übernatürliche Wesen erzeugten und damit wichtige Funktionen innerhalb einer Gemeinschaft übernahmen. Nach der Messe strömen die Teilnehmenden nach draußen, stehen auf dem Kirchvorplatz beieinander, reden, tauschen sich aus, bringen sich auf den neusten Stand. Das Dorf trifft sich so in regelmäßigen Abständen und hat dafür diesen Ort geschaffen, diese Möglichkeit, zusammenzuhalten.

Etwa hundert Meter oberhalb der Kirche steht auf einem Sandsteinsockel ein Bildstock, das Andachtsbild eines Heiligen. Berthold, der von den meisten Berti genannt wird, hat den auf eigene Kosten errichten lassen. Eigentlich sollte es ein Kreuz werden. Doch im Dorf gab es verschiedene Meinungen dazu. Manche sagten, Kreuze kann es nie zu viele geben, andere meinten, Kreuze haben wir hier schon genug.

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Ein Heimatforscher wies Berti schließlich darauf hin, dass in Gerstengrund früher der Heilige Wendelinus verehrt wurde, der Schutzherr des Viehs. Im Kohlbachtal gab es einst zahlreiche Herden. Im Garten eines Fuldaer Restaurators fand Berti einen Bildstock aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er ließ ihn in die Rhön bringen und wählte Gravuren für den Sockel aus. Im letzten Jahr war die Einweihung, eine Prozession zog von der Mariengrotte zum Bildstock, die Alphornbläser aus Geisa spielten dazu.

Einmal im Jahr, am 20. Oktober, dem Namenstag des Schutzpatrons, soll es zukünftig eine kleine Andacht geben. Es ist Berti wichtig, das zu ehren, ein bisschen was zurückzugeben, von dem, was er hat. Er sagt: »Wir müssen das halten, die Jugend hat es nicht mehr so mit dem Glauben.« Woran das liege, fragen wir.

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Er überlegt. Die weite Welt sei mittlerweile viel näher dran an den Menschen, selbst hier im Dorf. Es gebe weniger Priester. Die Missbrauchsfälle haben viel Vertrauen gekostet. Dazu komme Bequemlichkeit. Dann sagt er: »Es geht den Leuten auch gut. Da brauchen die Gott nicht mehr so. Früher, wenn sie Hunger hatten, damals im Krieg, in den Schützengräben, da haben sie gebetet. Gott hat Hoffnung versprochen. Heute heißt die Hoffnung amazon.«

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Auf der einen Seite des Bildstocks befindet sich eine große Weide. Dort hält Bertis Sohn Markus eine Herde von Highländer-Rindern, eine Winterrasse, die sich draußen am wohlsten fühlt. Die Herde ist jung, Markus will sie Schritt für Schritt vergrößern. Seine Töchter haben den Tieren Namen gegeben: Tibor, Marla, Schneeflocke. Highländer haben wenig Fleisch und wachsen langsam, dafür ist die Fleischqualität gut.

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Die Schwierigkeit besteht darin, Kunden zu finden, die bereit sind, mehr für dieses gute Fleisch zu bezahlen. In der Nähe von größeren Städten ist das leichter. Gerstengrund ist weit von den großen Städten, da findet sich schwerer Kundschaft, die einen höheren Preis akzeptiert. Geht das Fleisch an den Zwischenhändler, ist der Ertrag geringer. Noch sind diese Fragen für Markus weit weg, noch müssen die Highländer wachsen und ihr Schlachtgewicht erreichen.

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Auf der anderen Seite des Bildstocks wohnen Markus und Berti mit ihren Familien. Auf dem großen Anwesen befinden sich mehrere Gebäude, die unterschiedliche Funktionen erfüllen: In einem Rohbau stehen Maschinen und Werkzeuge. Im Wohnhaus leben vier Generationen unter einem Dach. Der hintere Hof ist für die Enten und Hühner vorgesehen. In der Scheune lagert das Heu und im Stall stehen die Schweine und Rinder.

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Im Schober, wo ein Kreuz und ein Foto von Walter Ulbricht an der Wand hängen, klettert die neunjährige Lina auf den Heuboden und macht von da aus einen Salto ins Heu. Im Stall kauen die Kühe am Stroh. Wenn ein Kuhschwanz sich hebt, schießt gleich darauf ein gelber Strahl hervor oder fällt Kot in die Rinne vor den Buchten. Ab und an greift Berti dann nach einem Besen und kehrt nach. Später bewegt er mit Hilfe einer mechanischen Vorrichtung eine Art Pflug durch die Rinne und schiebt so den Kot nach draußen.

Dass es in Gerstengrund überhaupt noch Landwirte gibt, ist einer geschichtlichen Besonderheit zu verdanken. Im Zuge der Enteignungen in DDR-Zeiten sollten auch hier die Bauern ihr Vieh einem großen Stall in Kranlucken überlassen. Doch dazu kam es nie. Die Bauern behielten ihr Vieh und machten nach der Wende weiter mit der Tierhaltung.

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Berti sagt, dass die Zeiten sich geändert haben. Früher konnte man von zehn Milchkühen und zwanzig Hektar Land leben. Heute ist das nicht mehr möglich. »Was wir machen, ist Hobby.« Die Tierhaltung ist ein Nebenerwerb. Nur wer Geld mit Arbeit außerhalb des Orts verdient, kann sich die Landwirtschaft noch leisten. Um die Tiere, um den Hof, kümmern sich die Kleinbauern in ihrer Freizeit. Beziehungsweise: Der Betrieb ist ihre Freizeit. Urlaub, Wochenenden gibt es selten. »Man ist an den Stall gebunden, früh, abends melken, immer gibt es was zu tun«, sagt Berti. Es klingt nicht so, als würde er das nur bedauern.

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Der Fleischmarkt ist kaputt, sagen Berti, Markus und sein Cousin Martin, Profite werden mit Masse erzielt. In Großbetrieben werden Schweine durch Futtermittel im Vierteljahr auf hundert Kilo hochgemästet und dann geschlachtet. Wenn die Fleisch- oder Milchpreise runtergehen, lässt sich das nur ausgleichen, wenn man mehr produziert. Und für einen solch kleinen Hof ist das nicht möglich.

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Berti trägt Gummistiefel, einen lila Pullover, dazu eine Stoffmütze. Nachdenklich wühlt er mit der Hand im Sack mit dem Futtermittel. Eigentlich ist das klar: Wenn man billiges Fleisch kauft, kann man nicht erwarten, dass die Bedingungen für Tier und Menschen gut sind. Masse ist schlecht für die Umwelt. Die Folgen sind schon zu sehen und nur mit viel Geld wieder zu reparieren. Wer billiges Fleisch kauft, bezahlt am Ende dennoch mehr. Die Antwort auf die Frage, wie sich dieser Kreislauf unterbrechen ließe, liegt ebenfalls klar auf der Hand.

Dennoch wirkt Berti nicht pessimistisch. Er setzt seine Hoffnung auch auf die EU. Ein interessanter Aspekt: Während die in vielen kleinen Orten oft kritisch gesehen wird – Reglungen, die ins selbstbestimmte Leben eingreifen, Förderquoten, die den Anbau auf den umliegenden Feldern nach ökonomischen Faktoren bestimmen – verbindet Berti damit Zuversicht. Er sagt, dass Landwirte wie er ökonomisch uninteressant für die Politik seien. Aber aus ökologischen Gründen können sie eine wichtige Rolle spielen. Der Anbau von Monokulturen ist einer der Gründe für das Insektensterben. Deshalb werden seit kurzem Wiesenstreifen an den Rändern von Feldern gefördert, die Insekten anziehen und eine größere Artenvielfalt ermöglichen sollen.

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»Das ist unsere Chance«, sagt er. Wenn die EU erkenne, dass die Großen niemals Vielfalt gewährleisten können, müsse sie die Kleinen stärker machen. Er setzt deshalb Hoffnung darauf, wiederholt das mehrmals, sieht dies als eine Möglichkeit fürs Weitermachen. »Ich sehe mich weniger als Fleischproduzent als jemand, der die Natur erhält.«

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Über die Straße hinweg hat Martin kürzlich einen Stall gebaut. Hell und weit ist der und bietet den Kühen reichlich Platz. Früher war Martin auf dem Bau, heute ist er Bergmann bei Kali und Salz, Sprengmeister. Er arbeitet in drei Schichten. Bei Martin hat die Landwirtschaft auch etwas mit Tradition zu tun. »Ich schlag nach dem Opa aus«, sagt er. Der war Bauer. »Ich würde den Bergbau aufgeben und in Kühen machen, wenn sich das finanziell rentieren würde.«

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Doch um davon leben zu können, würde der neue Stall, die Tiere darin, nicht genügen. Dann müsste er in anderen Dimensionen denken. Ein Ballen reicht für drei Tage, dazu ein Ballen fürs Einmisten. Durch die Dürre im letzten Sommer ist der Preis hoch, zwei Ballen kosten so viel wie eine junge Kuh. »Weizen saugt mehr auf, aber ich muss sehen, was ich kriegen kann«, sagt er.

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Kürzlich war er auf Kur. Im Dorf ist das bekannt. Mehrmals wird er nach einem Kurschatten gefragt. Auch wenn die Fragen im Scherz gestellt werden, fällt doch deren Häufigkeit auf. Dahinter steht der Gedanke, dass zu einem Hof eine Frau gehört, die einen Teil der Arbeit übernimmt. Und natürlich die Frage nach den Nachkommen, die den Hof einmal fortführen. Es ist schwer, jemanden kennenzulernen, wenn man einen Hauptberuf hat und dazu eine Landwirtschaft, die einen rund um die Uhr fordert. Auch deshalb sind Veranstaltungen wie Kirmes oder Fasching, welche die Alleinstehenden aus der Region zusammenbringen, wichtig. Dazu muss die Frau das Bauernleben mögen, damit rechnen, dass ihr zukünftiger Partner sehr viel Zeit auf dem Hof, bei den Tieren verbringt oder im Fall von Martin, der im Gemeinderat sitzt und stellvertretender Bürgermeister ist, sich zudem noch zusätzlich fürs Dorf engagiert.

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Es ist also nicht einfach. Martin erträgt die mehrmaligen Nachfragen geduldig und gelassen, kontert oft mit einem angenehm trockenen Humor. Stolz zeigt er uns seinen zweiten Stall, den mit den Schafen. Sein Urgroßvater war Schäfer, auch an diesen Teil der Familiengeschichte möchte Martin so anschließen. Er hält sich eine Herde, Zuchttiere, einige haben schon Preise gewonnen. Man merkt, wie sehr ihm die Tiere am Herzen liegen, wie gern er diese Arbeit hauptberuflich täte.

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Als wir den Stall verlassen, stehen wir wieder im Dorf. Schnee liegt auf den Hängen, Schnee auf den Feldern. Das Weiß verbirgt die Landschaft. Längst ist Nebel aufgezogen, der Blick verschwindet im Ungefähren. Wie würde Gerstengrund wohl im Sommer aussehen? Blühende Sträucher, grüne Wiesen, darauf die Kühe und Schafe, die Sonne, die in langen Strahlen ihr Licht ins Tal schickt? Es wäre das Idyll, das in Supermärkten auf den Verpackungen von Lebensmitteln versprochen wird; Tiere in natürlicher Umgebung, Natur, grüne, saftige Wiesen, kleine Herden, die Abwesenheit der Realität der Massentierhaltung.

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Doch tatsächlich ist alles wesentlich komplizierter. Das Bild auf den Etiketten ist ein Bild vergangener Tage. Oder eines, das nur unter großen Anstrengungen aufrecht zu erhalten ist.

Zwei große Themen haben wir in Gerstengrund gefunden: den Glauben und die kleine Landwirtschaft. Und auch wenn die Welt außerhalb des Kohlbachtals anders tickt, schneller und größer ist, hat sich beides hier gehalten, haben die geschichtlichen Besonderheiten, die Biografien der Menschen hier dafür gesorgt, dass beides noch existiert.

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Die Kirche ist ein Neubau, ein Stall auch. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass es eine Zukunft geben kann, der Glaube, dass das, was war, mit kleinen Anpassungen an die Gegenwart weiter bestehen könnte.