Made in Meusebach

»Das Dorf ohne Spatzen« nennt sich Meusebach. In der Welt der Touristiker ist diese Art der Werbung mit einem ehrlich proklamierten Makel bisher ein No go. Man stelle sich vor, Weimar würde werben: »Die Stadt ohne Goethe und Schiller«. Immerhin sind die Dichter ja schon Jahrhunderte tot. Oder Berlin: «Die Stadt ohne Vergnügungspark«. Schließlich ist der Plänterwald auch Geschichte. Oder Rhodos: »Die Stadt ohne Weltwunder«. Fiel der Koloss von Rhodos doch bereits 227/226 v. Chr. einem Erdbeben zum Opfer. Mit der innovativen Strategie des Betonens der Absenz von etwas, haben die Meusebacher schon heute Bekanntheit bis nach Amerika erlangt. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Erfolgskonzept kopiert werden wird. »Made in Meusebach« wird DAS internationale Tourismussiegel.

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Pflanzenrechte

Rund um Meusebach ist Wald. Seit Menschengedenken wird dieser intensiv bewirtschaftet. In den letzten Jahren setzt sich in der Gesellschaft zunehmend die Erkenntnis durch, dass auch Bäume Lebewesen sind und so auch behandelt werden müssen. Dringend sollten deshalb Pflanzenrechte definiert und umgesetzt werden. Das ist auch zum Schutz der Menschen wichtig. Denn so wie Menschen ein »World Wide Web« haben, verfügen die Bäume über ein »Wood Wide Web«. Weiße Pilzfäden verbinden als Glasfasern des Waldes alle Bäume, ja alle Sträucher und Pflanzen miteinander. Wenn sie anfangen sollten, Daten über die Waldzerstörer zu sammeln, diese Daten auszuwerten und gegen diese menschlichen Feinde zu Felde zu ziehen, können sich die Leute warm anziehen. Angesichts ihrer geographischen Lage betrifft das die Meusebacher besonders. Und wenn man dann noch das Mengenverhältnis Bäume-Menschen betrachtet … O weh!

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Das heimliche Matriarchat

Auf den Dörfern gab es die Tradition der Dorfkneipen. Im Osten setzte nach der Wende ein massenhaftes Sterben der Lokale ein. Und so geschah es auch in Meusebach. Die Männer des Ortes aber wollten auf ihr zweites Wohnzimmer nicht verzichten und öffneten kurzerhand ihre eigene Schenke. Freitagabend, Sonntagmorgen und Montagabend treffen sie sich und besprechen in ihrer »Kirche« beim »Gesangsbuch mit Henkel« die »große und kleine Politik«. Frauen haben keinen Zutritt. Den Frauen macht das nichts. Mit Eintritt in die Schenke nämlich sind ihre Männer unter gegenseitiger Aufsicht. So haben dann alle etwas davon: Die Männer genießen das Gefühl der kleinen Freiheit, die Frauen das der großen. Die männlichen Schenkenbesucher nämlich wissen nicht, was ihre Frauen während dieser Zeit so treiben.

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Fetisch-Befriedigung

Etwas abseits von Meusebach auf einer Waldlichtung ist eine Köhlerei. Laut den Erzählungen im Dorf waren einst zehn Meiler im Einsatz. Heute ist es nur noch einer. Zu teuer ist die in Deutschland hergestellte Holzkohle. Wer grillt, kauft lieber die billige Produktion aus Südamerika. Das Geschäftsmodell der deutschen Köhler bricht so nach und nach zusammen. Aber das muss nicht das Ende sein. Ein Meiler kann ja auch für andere Zwecke genutzt werden. Von verbrannten Haaren auf den Armen spricht der Köhler, so man dem Weiler während des Betriebs nahe kommt. Und das ist doch mal eine gute Nachricht. Männer und Frauen nämlich legen heutzutage großen Wert auf enthaarte Körper. Statt nun viel Geld in brasilianische Waxing-Studios zu tragen, könnten Haarlos-Fetischisten einfach gemütlich in Meusebach um einen deutschen Meiler herumliegen.

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Kopiengefahr

Seit das österreichische Hallstatt in China originalgetreu nachgebaut wurde, kennt ganz China den Ort. Das originale Dorf wird inzwischen von Massen an chinesischen Touristen überrannt. Das bringt zwar Geld, aber auch massive Probleme. Meusebach könnte ein ähnliches Schicksal drohen. Das liegt an John O. Meusebach, einem aus dem adligen Geschlecht derer von Meusebach. Dieser gründete im 19. Jahrhundert die texanische Stadt Fredericksburg. Bis heute ist man dort stolz auf ihn. Dieser deutsche Einfluss zeigt sich noch immer: Straßen, Restaurants, Hotels und Geschäfte tragen deutsche Namen, gegessen und gefeiert wird auch deutsch. Vor einigen Jahren reiste eine Meusebacher Delegation in barocken Kostümen und mit einer Hellebarde als Geschenk nach Texas. Anschließend kamen die Amerikaner nach Meusebach. Und nun wollen sie in Amerika den schönen Meusebacher Wehrturm nachbauen. Da kann man den Meusebachern nur zurufen: Wehret den Anfängen! Baut neumodischeren Kram! Sonst seid ihr bald das ostdeutsche Hallstatt.

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Blaue Revolution

Der Zusammenhang von Viehhaltung und Klimawandel ist den meisten Menschen bewusst. Einen Ausweg aus dem Dilemma, essen zu müssen und dafür massiv Ressourcen zu verbrauchen, könnte in der blauen Revolution bestehen. Dabei würde die Ernährung von Fleisch auf Fisch umgestellt. In dieser Hinsicht sind die Meusebacher bestens für die Zukunft gerüstet. Rechts der Straße, die aus dem Ort führt, liegen acht Teiche, im Ort einer. Aus ihnen werden jedes Jahr Karpfen, Schleie und Forellen geerntet. Essen kann man die Wasserbewohner allerdings nur in den Monaten mit R, also zwischen September und April. Was die Menschen in der anderen Zeit statt Fisch essen, ist noch unklar. Aber um den Klimawandel zu verlangsamen, muss man auch mal zu Opfern bereit sein.

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Meusewood

Jedes Jahr feiern die Meusebacher unter einem anderen Motto Fasching. Einmal lautete es Meusewood. Klingt übertrieben. Ist es aber nicht. Wurde doch in Meusebach schon der eine oder andere Film gedreht. Meist kleine private über den Ort. Einmal aber schon ein richtiger echter großer Märchenfilm. Der in Altmeusebach lebende Schmied spielte den Teufel. Sein Mittelalterdorf bietet sich indes auch für andere Märchenfilme an: Rapunzel könnte aus dem Turm schauen, der Froschkönig aus dem Brunnen springen, die Goldene Gans Menschen an sich kleben … Nennt sich Thüringen nicht Kindermedienland? Zu Recht! Wenn Meusewood von den Locationscouts entdeckt wird, wird es der Hotspot der Märchenfilmindustrie.

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Das neue Refugium

Ob es Elektrosensibilität gibt oder nicht, darüber streiten sich Experten. Die Elektrosensiblen aber sind sich sicher. Sie beklagen, dass sich Elektrosmog massiv auf ihre Gesundheit auswirkt. Problematisch ist das vor allem deshalb, weil es in Deutschland kaum noch Orte ohne Elektrosmog gibt. In Meusebach ist dieser reduziert. Zwar gibt es einen Funkturm, WLan, Mikrowellenherde und Bluetooth, aber eines gibt es nicht: Mobilfunk. Manche vermuten, dass es deshalb auch so viele Kinder im Ort gibt. Werden die jungen Leute doch nicht vom Handy von der Fortpflanzungstätigkeit abgelenkt. Für aussterbende Regionen könnte deshalb die Abschaltung des Mobilfunks ein guter Tipp sein. Denn 1. Nachwuchs wird kommen, 2. Elektrosensible werden zuziehen. Das Problem der Landflucht wird sich umkehren zur Stadtflucht.

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Selbstverschuldetes Elend

Warum Spatzen in Meusebach keine Überlebenschance haben ist klar. Am Waldrand ist die Kanone, mit der man auf Spatzen schießen kann. Im Dorf steht eine Spatzenjägerhalle. Drinnen trinkt man für wenig Geld Spatzenhirn. Kulinarische Spezialitäten sollen gefüllter Spatz und Spatzenkopfsuppe sein. Weil deshalb keine Spatzen die Neuigkeiten von den Dächern pfeifen können, müssen die Meusebacher für Klatsch und Tratsch runter von der Couch und raus auf die Straße. Selbst verschuldetes Elend kann man da nur sagen. Man könnte es so gemütlich haben.

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Lebenserwartung

Männlichen Haushühnern ist kein langes Leben beschieden. Selbst die wohlwollendste Meusebacher Vegetarierin lässt ihnen den Hals umdrehen. Grund sind die oft tödlichen Kämpfe der Hähne um die vielen Hennen. Man könnte sagen: Ein Hahn ohne Hühner würde auf jeden Fall länger leben. Bei den Menschen gibt es den gegenteiligen Effekt. Männer mit vielen Frauen mag vielleicht die Gefahr einer tödlichen Eifersuchtsattacke drohen, aber abgesehen davon, sollten sie mit wenigstens einer Frau gesegnet sein, leben sie länger als ein Single-Mann. Die Statistik sagt: ganze sieben Jahre. Deshalb sollten sich die sechs Meusebacher Junggesellen dringend eine Frau anlachen. In Meusebach selber gibt es keine weiblichen Singles, aber anderorts soll es von Frauen nur so wimmeln. Der Ort heißt Internet.

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Feministischer Sieg

Für die Kinder der DDR war Sonntag 10 Uhr ein selbstgewählter TV-Pflichttermin. Es lief »Mach mit, mach’s nach, mach’s besser«. Auf der Couch sitzend, schauten die Kinder anderen sich sportlich betätigenden Kindern beim Wettstreit zu. In Meusebach hat zwar nicht das DDR-Fernsehen, aber das Motto »Mach mit, mach’s, mach’s besser« überlebt. Statt vor dem Fernsehgerät zu sitzen, arbeiten die Kinder draußen. Nicht Erwachsene, sondern Kinder fischen den Teich ab, schneiden Schilf und braten Bratwürste. Der Rost ist die Domäne der Mädchen. Und das ist ein wirkliches Wunder. Denn wer hätte gedacht, dass das gelebte Motto einer DDR-Fernsehsendung zwangsläufig noch viele Jahre später zu einer feministischen Eroberung der bis dato maskulinen Herrschaft über den Rost führen würde.

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Schönheitsideale

Was ist schön? Zart, schmal, jung, unbekleidet? Oder mächtig, ausladend, alt, bekleidet. Diese Frage, gerichtet an Menschen, dürfte überwiegend mit den ersten vier Adjektiven beantwortet werden. Falls Bäume wie Menschen denken, müssen die Meusebacher dringend tätig werden. Schaut doch der jahrhundertealte gigantische Tulpenbaum jedes Jahr auf einen stets schmalen jungen nackten Maibaum. Was, wenn auch Bäume darob unglücklich werden und Nahrung verweigern? Dann hilft nur eines: Fällen! Depressionen oder Magersucht aufgrund von Figurproblemen sollten dem Erdenmitbewohner nun wirklich erspart werden. Fehlt den Meusebachern in der Folge der pittoreske Anblick des Baumes, können sie die im Forsthaus wohnende Restauratorin um eine Rekonstruktion bitten. Wer mit Cranach und anderen Preziosen zurechtkommt, für den sollte ein Tulpenbaum doch ein Kinderspiel sein.

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Invasive Arten

Seit Jahrhunderten gibt es keine Spatzen mehr in Meusebach. Über die Ursachen gibt es unterschiedliche Ansichten. Doch immer mal wieder gibt es Versuche, Spatzen ins Dorf einzuschleppen. Vor einigen Jahren erst wurden einige Exemplare dieser Vögel von Ortsfremden in der Spatzenjägerhalle freigelassen. Was aus den Tieren wurde, kann man auf der Getränkekarte lesen. Diese Konsequenz würde man auch anderen von invasiven Tieren bedrohten Orten wünschen. Vielleicht müssten die Meusebacher mit ihrer Kampferfahrung mal nach Guam reisen, wo inzwischen die invasive Braunschlange die Macht über die Fauna übernommen hat. Aufmerksam allerdings muss Meusbach weiterhin bleiben. Inzwischen nämlich scheinen Kängurus hier ihr Unwesen zu treiben.

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