Identitätsproblematik

Asbach und Sickenberg sind winzig und doch welthistorisch von Bedeutung. Beide gehörten 1945 zu den fünf Orten, die im Zuge eines Gebietstausches von der US-amerikanischen Besatzungszone in die sowjetische gerieten, während zwei Orte aus der sowjetischen Zone wiederum in die amerikanische kamen. Die eigentlich hessischen Dörfer Asbach und Sickenberg wurden so zu thüringischen. Nach der Wende wollten 97 % der Bewohner zurück nach Hessen. Doch eine Annullierung des Abkommens der Siegermächte war nicht möglich. Nötig gewesen wäre ein neuer Staatsvertrag. Und so blieb es, wie 1945 festgelegt. Genau deshalb muss man die Asbach-Sickenberger nach ihrer Identität fragen. Sind sie Hessen oder Thüringer? »Wir sind beides«, sagen die Bewohner. Mhm? Sind sie jetzt Hessinger oder Thüren?

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Second hand

Nur 30 m von Asbach entfernt verlief der »antifaschistische Schutzwall»«, der ganz offiziell all die braven DDR-Bürger vor den imperialistischen Horden aus dem Westen schützen sollte. Als Barriere zwischen Ost und West diente ein im Westen produzierter Streckmetall-Zaun aus verzinktem Metallgitter. Die Eroberung des Ostens wurde erfolgreich vereitelt, die Flucht aus der DDR auch. Nach dem Mauerfall verwendeten die Einwohner das bewährte Qualitätsprodukt und bauten in Zweitnutzung damit Grenzen um ihre Gärten. Die Bewohner aus dem westlichen Hessen hatten eine profitträchtigere secondhand-Idee. Für schlappe 4 Euro verkaufen sie im nahe gelegenen Grenzmuseum Streckmetall-Grenzzaun-Souvenirs. In Bezug auf kapitalistische Wirtschaftsgesetze hat der Osten bis heute wirklich Nachhilfebedarf.

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Es war nicht alles schlecht

Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen. Dieser Parole hatten sich die DDR-Oberen unterworfen und das in Bezug auf Potemkinsche Dörfer ganz praktisch auch umgesetzt. So wie in Russland auch, wurden in der DDR Häuserwände farbig gestrichen, Rasenflächen grün gespritzt und gemietete Claqueure an die Straßen gestellt, wenn Mitglieder der Regierung durchs Land reisten. Auch die Asbacher waren Teil des Potemkinschen Zirkusses. Allerdings eines besonderen. Denn nicht für die DDR-Oberen, die nie kamen, sondern für die Menschen auf der anderen Seite der Mauer, die zwar ebenso (aber aus anderem Grund) nie kamen, wurden alle Fassaden der Häuser, die in Richtung Westen zeigten, aufs Schönste erhalten. Sogar die 14 leeren Häuser. Diese Tradition haben die Asbacher nicht nur bewahrt, sondern ausgebaut. Heute nämlich sind die wenigen aktuell leeren Häuser in alle Himmelrichtungen schön. Es war eben nicht alles schlecht.

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Fruchtbare Politik

Blühende Landschaften hatte Kanzler Kohl dem Osten einst prophezeit. In Asbach-Sickenberg wurde das wahr. Im Herbst 2018 biegen sich Bäume und Sträucher unter der Last der Früchte. Eine wahre Fruchtbarkeitsexplosion muss also stattgefunden haben. Eine ebensolche steht bei den Bewohnern noch aus. Wohnten in den neun Häusern in Sickenberg einst über 70 Menschen, so sind es heute nur noch 13. Und deren jüngste sind 37 und 41 Jahre. Vielleicht müsste jetzt einfach Kanzlerin Merkel mal eine Prophezeiung machen.

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Die Crux der Wahl

Einmal, noch zu DDR-Zeiten, brannte es in Asbach-Sickenberg. Doch lieber ließen die Diener des Staates das Haus abbrennen, als dass man geduldet hätte, dass das sozialistische Feuer durch feindliches Löschwasser aus dem Westen vernichtet worden wäre. Heute sind diese ideologischen Scheuklappen abgelegt und Hilfe ist willkommen. Das ist gut, denn nur dank Unterstützung der Feuerwehr aus den nahe gelegenen Orten – auch aus dem Westen – konnten die letzten drei Großbrände in Asbach gelöscht werden. Dass trotz der auffälligen Häufung der Brandkatastrophen der Zulauf zum Feuerwehrverein besonders groß wäre, kann nicht behauptet werden. Womöglich liegt es daran, dass es noch einen zweiten Verein im Ort gibt. Den Sportverein. Einen großen Vorteil hat diese zweite Wahlmöglichkeit: wer da trainiert ist fit und kann bei einem Brandausbruch schneller zum Alarmknopf sprinten. Die Feuerwehren, auch die aus dem Westen, kommen ja zuverlässig.

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Altes Geheimwissen

Wer kann sich schon merken, wer wer ist, wenn viele Namen im Dorf mehrfach vergeben werden. Die Asbach-Sickenberger haben aus diesem Grund eine innovative Methode erfunden, um nicht ständig neue Namen lernen zu müssen. Namen sind bei ihnen nicht an die Personen, sondern an das Haus gebunden, in denen sie leben. So tragen die Bewohner in der Dorfstraße 12 nicht ihren wirklichen Namen Dellemann, sondern Rektors, die in der Dorfstraße 35 heißen nicht Thomas, sondern Triller und die in der Dorfstraße 28 nicht Lange sondern Chrischtoffel. Sollte irgendwann jemand anderes einziehen, erben diese neuen Leute den Hausnamen. Wie lange Neuzugezogene brauchen, um ihren individuellen Asbach-Sickenberger Namen zu erfahren, ist unbekannt. Tatsache ist: Sie tragen im Dorf einen anderen, als den, der an ihrem Türschild steht und kennen müssen sie ihn nicht. Über dieses Geheimwissen verfügen die Alteingesessenen.

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Tierische Innovationen

In Asbacher Gärten gibt es Deutsche Reichshühner. Sie sehen sehr schön aus. Aber sie sind etwas dumm. Man erkennt das daran, dass sie trotz vieler Lehrstunden durch die menschlichen Besitzer zum Schlafen statt in den Stall lieber auf den Baum gehen. Die urdeutsche Züchtung entstand Anfang des letzten Jahrhunderts mit dem Ziel, ein deutsches Nationalhuhn zu erschaffen. Interessanterweise wurden für die Züchtung des Huhns keine einheimischen, sondern asiatische und Mittelmeer-Rassen genutzt. Durchgesetzt hat sich das Deutsche Reichshuhn nicht, sonst würde die Rasse heute nicht auf der roten Liste der gefährdeten Arten stehen. Vor dem Hintergrund der besonderen historischen Vergangenheit Asbach-Sickenbergs böte es sich an, hier eine neue deutsche Rasse zu züchten. Dafür genutzt werden könnten erneut fremdländische Hühner-Rassen. Am Ende gäbe es ein Deutsches Einheitshuhn. Zugegeben, die Einheit ist jetzt auch schon länger her und nicht mehr so up to date, aber in unseren politisch aufgewühlten Zeiten wäre doch eine Einheit zwischen den politischen Lagern, selbst wenn sie »nur»« in Gestalt eines Huhnes daherkäme, ja auch ein schönes Symbol. Nun muss das Deutsche Einheitshuhn nur noch gezüchtet werden. Ach ja, und vielleicht auch mit etwas mehr Intelligenz, damit es nicht gleich wieder in seiner Existenz gefährdet ist.

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Floraler Frieden

Dass sich alle in einem Dorf grün sind, ist unwahrscheinlich. Und so gibt es eben auch in Asbach-Sickenberg Konfliktherde. Mit Waffengewalt werden sie nicht ausgetragen. Aber mit juristischer Schützenhilfe. Dabei ist die friedliche Lösung so nah. Im Dorf steht nämlich eine Linde. Eine solche war bei den Germanen der Ort, an dem Gericht gehalten wurde. Und nach Kriegen wurden spezielle Friedenslinden gepflanzt. Vielleicht in ferner Erinnerung daran wird in Asbach-Sickenberg bis heute gesagt: »Um den Lindenbaum rum, zankt man sich nicht!« Vielleicht könnten die Einwohner diese Doppelbedeutung der Linde nutzen. Erst halten sie Gericht über die Probleme. Nach dem (hoffentlich salomonischen) Urteil könnten sie eine zweite, eine Friedenslinde pflanzen. Dass man auf diese Möglichkeit der floralen Konfliktbefriedung bisher nicht gekommen ist, liegt bestimmt nur daran, dass an der aktuellen Linde „Naturdenkmal“ steht. Unter der neuen könnte dann die treffendere Bezeichnung stehen: »Sozial denk mal«.

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Superlativistisch

Weitgereiste Asbach-Sickenberger schwärmen: »Ich weiß, dass das hier das ultimativst schönste Fleckchen der Erde ist.« Deutschlandkundige Asbach-Sickenberger konstatieren: »Hier ist der einzigste Fußballplatz auf dem ehemaligen Todesstreifen.« Linguisten werden darob die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sind doch die Wörter »ultimativ« und »einzig»« nicht steigerungsfähig. Aber was wäre heutzutage in ganz Deutschland ein Leben ohne die neuesten Superlative? Was wären wir ohne maximalste Erfolge, optimalste Lösungen, positivste Ergebnisse? Insofern sind die Asbach-Sickenberger voll am Puls der Zeit, wollen sie doch in keinster Weise Besucher verprellen. Nein, diese sollen in vollster Zufriedenheit abreisen und hinterher in absolutester Überzeugung die Kunde vom einzigartigsten Asbach-Sickenberg weitertragen.

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Bindestrich-Identität

Jahrhundertelang waren Asbach und Sickenberg eigenständige Gemeinden. 1950 wurde Sickenberg, laut Chronik auf eigenen Wunsch, der Gemeinde Asbach zugeordnet. Und doch hat sich bis heute jeder Ortsteil sein Tafelsilber bewahrt. So haben beide je einen alten und einen neuen Friedhof, ein Feuerwehrhaus, ein Gasthaus, einen Anger, eine Wendeschleife und eine Bushaltestelle. Und obwohl die alteingesessenen Bewohnern das dramatische Schicksal von Zwangsaussiedlung, Vertreibung, Enteignung, Leben an der Grenze, Zugangsbeschränkung, Zwangskollektivierung und Freiheitsentzug teilen und die Orte seit 68 Jahren zusammengehören, bleibt ein Asbacher ein Asbacher und ein Sickenberger ein Sickenberger. Und nun steht eine Gebietsreform vor der Tür und der Verlust der Eigenständigkeit droht. Man fragt sich: wie heißt der Ort dann? Asbach-Sickenberg-Uder? Und was, wenn die nächste Reform kommt? Asbach-Sickenberg-Uder-Heiligenstadt? …

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Verheißungsvolle Glaubensdestination

»Asbach – wo Milch und Honig fließen.« Das haben zwei Neuzugezogene erfunden. Mit diesen Worten wollen sie, die am äußersten Rand von Asbach leben, den eigenen Honig und die Milch der nahe gelegenen Demeter-Schafsmilch-Produktion preisen. Vor Jahrtausenden war nicht Asbach, sondern Israel der Ort, an dem Milch und Honig flossen. Und nicht nur kulinarische Verheißungen gab es dort, sondern auch religiöse. Diese wiederum haben den Weg auch nach Asbach-Sickenberg gefunden. Verkündet werden sie in der Versöhnungskirche. Sehr groß ist der Zuspruch unter den Bewohnern und Besuchern allerdings nicht mehr. Beide Zielgruppen strömen eher ins am äußersten Rand Sickenbergs gelegene Hofcafe, um sich dort kulinarische Verheißungen einzuverleiben. Und so nivellieren sich eventuelle Differenzen von Versöhnungswilligen weniger in der Kirche, als bei Kuchengenuss aus regionalen biologischen Zutaten, wozu natürlich auch Milch und Honig gehören. Auf diese Weise erobert die aktuell angesagte korrekte Lebensweise von den Rändern her den Ort und sorgt nicht nur für den touristischen Zuspruch, sondern auch für den wachsenden Glauben an das Leben im Einklang mit der Natur. Und deshalb muss man heute für die Trias aus Glauben, Milch und Honig nicht mehr nach Israel reisen, sondern es reicht, Asbach-Sickenberg zu besuchen.

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Kryptisches Kürzel

Wer durch Asbach-Sickenberg läuft, wird immer wieder auf das kryptische Kürzel P16 stoßen. Was nur ist das? Wikipedia hat ja auf alles Antworten. Und hier steht: 1. CDK-Inhibitor 2A, ein Protein in Säugetieren, 2. eine Unterlage für Apfelsorten, 3. Berliner-Joyce P-16, ein amerikanisches Kampfflugzeug, 4. FFA P-16, ein Erdkampfflugzeug der Schweiz, 5. Piaggio P.16, ein italienischer Bomber, 6. P 16, eine Musikgruppe. Aber nichts davon ist richtig! P 16 ist ein Premiumwanderweg mit der Nr. 16, initiiert von einer touristisch begabten Sickenbergerin. Wer ihn bewandert, sollte sich dringend »Hals und Beinbruch!« wünschen lassen. Wer lieber faul auf der Couch liegt, kann sich dafür in der Zeit an die Vervollständigung des Wikipedia-Eintrags machen.

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Der Schnaps-Gegenbeweis

Von Udo Jürgens gibt es das Lied: »Der Teufel hat den Schnaps gemacht«. Fraglich ist, ob diese Aussage so haltbar ist. Die Asbach-Sickenberger nämlich könnten das widerlegen. Wird hier ein Kind geboren, trinken die Männer Pullerschnaps. Stirbt jemand, wird von den Sargträgern das Fell dessen versoffen, der im Sarg liegt. Geburt und Tod werden aber allgemein nicht mit dem Teufel, sondern mit Gott verbunden. Würde Udo Jürgens noch leben, müsste er seine besungene Beziehung von Schnaps und Teufel deshalb noch mal ernsthaft hinterfragen.

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