New York vs. Eichstruth

New York ist die Stadt, die niemals schläft und Eichstruth ist das Dorf, das niemals schläft. Denn die meisten Bewohner arbeiten Schicht und so ist immer jemand wach. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass das Eichstrüther Nachtleben weniger spektakulär ist als das in New York. Doch manchmal gibt es auch in Eichstruth besondere denkwürdige Ereignisse. So die Nacht, in der die Kirche brannte und die Bewohner klingelnd durch den Ort liefen, um alle zu wecken. Wegen dieser Rund-um-die-Uhr-Schlaflosigkeit des Ortes haben weder Räuber, Einbrecher noch Brände große Chance auf Beute. Vielleicht ist das der Grund, dass die Türen hier nicht immer abgeschlossen sind. Und in dieser Hinsicht schlägt Eichstruth definitiv New York.

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Ein doppeltes Wunder

Eichstruth sei ein Dorf ohne Touristen, sagen die Eichstrüther bedauernd und vermuten, es läge an kaum vorhandenen Wanderwegen. Dabei sind die Bewohner im Besitz eines so ungeheuerlichen Wunders, dass sie sich eigentlich vor den Ansturm von Touristen schützen müssten. Ist in Deutschland nur jeder 29. Mensch ein Zwilling, so ist das in Eichstruth jeder Zehnte! Wenn das mal bekannt wird, werden Massen an Menschen mit dem Wunsch nach einer Mehrlingsschwangerschaft nach Eichstruth pilgern. Der Tourismus wird boomen, das neue Label »Dorf der Zwillinge« lauten, und vielleicht wird dann auch endlich die ersehnte magische Zahl von 100 Einwohnern erreicht. Ein weiteres Wunder wird geschehen.

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Der Tod und das Leben

Der lebendigste Ort in Eichstruth ist der Friedhof. Nicht nur, aber vor allem die Frauen kommen täglich. Sie pflanzen, gießen, harken, jäten, … plaudern. Manche nutzen jeden Schauer, um mit dem Regentropfenentfernen von den Grabsteinen, den Friedhof ein weiteres Mal am Tag besuchen zu können. Man könnte den Friedhof auch das Eichstruthsche Medium nennen. Denn nirgends sonst verwischen die Grenzen zwischen Toten und Lebenden, zwischen Jung und Alt und ja, auch zwischen den Geschlechtern. Denn spätestens nach dem Friedhofsgang der Frauen wissen auch die Männer, was es Neues im Ort gibt. Lebendiger als auf dem Friedhof geht es in Eichstruth nirgends zu.

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Zukunftsvision

Ortsfremde würden Fußballplatz sagen, die Eichstrüther nennen es Waldstadion. Einmal pro Jahr treten die Eichstrüther zum Sportfest gegen auswärtige Mannschaften an. Pro Mannschaft laufen sechs Mann auf. Auch Fans reisen an, aber zu kämpferischen Gegnern können diese Zuschauer nicht mutieren. Denn sie nehmen Seit an Seit mit den Eichstrüthern auf einer Art Tribüne zum Anfeuern Platz. Dieses friedliche Tribünen-Modell sollten sich die Eichstrüther patentieren lassen. Sollten sie es erfolgreich an die Bundesliga verkaufen, können sie aus ihrem Stadion eine Sehenswürdigkeit machen. Die Attraktion müsste natürlich vor Betreten geschützt werden. Die Eichstrüther würden deshalb dicker werden, aber ein paar Opfer bringen sie gewiss gern für den so sehnlichst gewünschten Touristenmagneten.

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Gefahrenquellen

Kindern auf dem Dorf drohen vielfältige Gefahren. Sie könnten im Dorfteich ertrinken oder von Bäumen fallen. Die klugen Eichstrüther haben vorgesorgt und rechtzeitig den hohen Baum am Anger abgesägt und einen Dorfteich gar nicht erst angelegt. Von tödlich von Bäumen herabgestürzten oder ertrunkenen Eichstrüther Kindern hat man deshalb auch noch nie gehört. Aber alle Gefahrenquellen konnten die Erwachsenen bisher nicht eliminieren. Die Kinder könnten noch immer von Kühen angegriffen werden, sich im Wald verirren, sich die Nägel fürs Baumhaus statt ins Holz in die Finger schlagen… Es wäre wirklich besser, man sperrt die Kinder mit Playstations und Handys auf der Wohnzimmercouch ein.

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Normativer Rahmen

Laut soziologischer Systemtheorie entsteht eine Ordnung nicht, wenn jedes Individuum nur nach eigener Kosten/Nutzen-Rechnung handelt. Es bedarf auch eines normativen Rahmens, in welchem die Handlungen stattfinden. In diesem Zusammenhang muss in Eichstruth die freiwillige Feuerwehr gesehen werden. Schließlich kann diese Feuerwehr weder ausrücken (kein Auto), noch retten (keine Atemmasken), noch löschen (keine Pumpsysteme), aber sie kann definitiv sehr gut Schläuche legen. Nach dem jährlichen Wettstreit mit weiteren schlauchlegenden Dörfern wird das Ergebnis dann auch entsprechend im Dorf begossen. Der Heldenstatus ist den Feuerwehrmännern sicher. Gleich ob Sieg oder Niederlage. Das Fest ist alles und die soziologische Ordnung hergestellt.

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Die ungerechten Gerechtigkeiten

Wer Philosophie studiert, kann verzweifeln zwischen all den Definitionen von Gerechtigkeit. In Eichstruth gibt sogar einen Plural von Gerechtigkeit und die Eichstrüther verzweifeln auch. Aber nur die, die nicht im Besitz der Gerechtigkeiten sind. Und das ist die Mehrheit. Seit Napoleons Herrschaft haben 14 Häuser Anspruch auf Gerechtigkeiten, die ihnen zusichern, dass sie allein die Macht über den Wald, das Holz, die Jagdlizenzen und die daraus sprudelnden Einnahmen haben. Und so wie es ist, solle es auch schön bleiben, finden zumindest die Gerechtigkeiten-Inhaber. Ein paar Prozent des Gerechtigkeiten-Profits gingen schließlich an die gesamte Gemeinschaft. Doch die Gerechtigkeiten-Freien finden das ungerecht. Sie wollen, dass alles geteilt wird. Zumindest in diesem Fall hat das Ideal des Kommunismus die Mehrheit der katholischen Eichstrüther absolut überzeugt.

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Luxusleben

Berliner, Hamburger, Münchner! Bitte alle diejenigen die Hände heben, die glauben, dass das Leben auf dem Land kein Luxus ist. Gut. Alle Hände wieder runter. Und hier nun die Schilderung der Eichstruth-Normalität: Bäcker, Supermarkt und Fleischer rollen mehrmals pro Woche direkt vor die Haustür. Arzt, Friseur und Gitarrenlehrer kommen sogar ins Haus. So und nun noch mal: Berliner, Hamburger, Münchner! Wer von Euch genießt auch diesen Luxus? Wie? Alle Hände unten?

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Oropax-Ruhe

Alle Eichstrüther sind überzeugt, ihr Ort sei ein Hort der Ruhe und Stille. Wer den Samstagmorgen in Eichstruth verbringt, erlebt die Idylle folgendermaßen. 7:00 – 7:05 Uhr Kirchenglockengeläut. 7:15 Uhr Bäckermobil Nr. 1 mit zwanzig-sekündigem Hupen vor jeder der drei Ortshaltestellen. 7:20 Bäckermobil Nr. 2 mit derselben Hupfrequenz, aber anderem Hupsound. 7:30 Uhr erste Kehraktionen der Bewohner vor ihren Häusern. Zugezogene berichten von Freitag-auf-Samstag-Oropax-Nächten, um zugleich zu beschwichtigen: Gewöhnung wäre alles und Eichstruth sei wirklich ein Hort der Ruhe und der Stille.

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Eine Warnung

Klar,es gibt in Eichstruth kein Kino, kein Bad, keine Disko und jede Menge weiterer Keins. Dafür allerdings gibt es eine Gemeinschaft mit schwerer Feiersucht: Kirmes, Patronatsfest, fetter Donnerstag, Männer-, Frauen- und Kinderwallfahrt, Sportfest, Kreuzjubiläum, Männer- und Frauenwanderungen, Adventsfest, usw. usf. Doch damit nicht genug: die Bewohner marschieren in voller Zahl auch zu Geburten, Hochzeiten und Jubiläen auf und singen Ständchen. Und sollte mal nix Großes los sein, feiern sie spontan oder schauen beim Nachbarn rein. Deshalb hier die Warnung an alle Sozialphobiker: Meidet Eichstruth! Euch droht da übles Leid.

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Einsamer Rekord

Man kann den Eichstrüthern vieles vorenthalten: Fördermittel, Straßenausbau, Hilfe beim Hausabriss, Wanderwege, … Sie nehmen es hin, mit Murren vielleicht, aber wehe, das Vorenthalten betrifft die Kirche. Da werden sie rabiat: wenn der Pfarrer nicht zu ihnen kommen soll, holen sie ihn ab, wo auch immer er ist. Hat der aktuelle Seelenhirte keine Zeit, besorgen sie sich einen pensionierten. Brennt die Kirche ab, wird sie eben von ihnen neu aufgebaut. Geld und Eigenleistungen – kein Thema! Schließlich gilt es, neben dem Bedürfnis nach sonn- und montäglicher Messe, auch einen Rekord zu halten: Bis zu 50 Prozent der Eichstrüther besuchen regelmäßig die Messe. Selbst im katholischen Eichsfeld ist das etwas Besonderes. Man muss eben die Kirche im Dorf lassen.

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Ehre oder Pflicht

Allein Kindergärten Sozialisierte kennen die Funktionsweise eines Dienstes. Turnusmäßig werden Dienste unter allen Gruppenmitgliedern verteilt. Tischdienst, Blumendienst, Garderobendienst usw. Auch in Eichstruth gibt es Dienste: den Platzwart, der das Waldstadion pflegt, den Blumendienst, der Kirche und Grotte mit frischen Blumen schmückt, den Putzdienst, der die gemeinschaftlichen Wege und die Kirche sauber hält, … Geld gibt es dafür nicht, Ehre muss reichen. Die Frage ist nur: Bleibt es eine Ehre, wenn jeder es tut? Ist es dann nicht eher Pflicht? Und was, wenn sich jemand der Pflicht entzieht? Ist er dann ehrlos und wird entehrt aus der Gruppe verstoßen? Fragen über Fragen.

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Sohn des Dorfes

Anscheinend benötigen Gesellschaften zur Identitätsbildung Respektspersonen, Helden und Ausnahmefiguren. Früher waren das Pfarrer, Krieger, Lehrer, …. In Ermangelung einer über die Zeiten hinaus bekannten historischen Figur haben die Eichstrüther einen lebenden Sohn des Dorfes zum heimlichen Vorbild gekürt. Einen, der als Korrespondent der ARD regelmäßig in die Wohnzimmer gesendet, aus Brüssel heraus die europäische Welt erklärt. Inwieweit er seine Eichstrüther bezüglich politischer Aspekte bildet und erzieht, ist unbekannt. Bekannt aber ist, zu welch aufgeregtem Zusammenlaufen in den Familien sein Mattscheiben-Erscheinen in den Häusern im Dorf führt. Mit der Ausnahmefigur in Person eines »TV-Stars« ist jedenfalls auch Eichstruth endgültig in der Moderne angekommen.

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Im Raps | Stefan Petermann