Der Sohn des Schulzen verließ Meusebach und als er nach Jahren reich an Geld zurück ins Dorf kam, da heiratete gerade seine Schwester. Zum Feste schenkte er ihr ein Kästchen, aus dem zwei Vögel flogen, er nannte sie Sperlinge. Doch die Tiere vermehrten sich und verheerten die Ernten. Erst einem Jägerburschen, der unter kräftigen Bannsprüchen Fichtensamen und Bucheckern in die Felder legte, gelang es, die Spatzen zu vertreiben und seither waren sie in Meusebach niemals mehr…
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An dieser Stelle unterbricht Torsten, der langjährige Bürgermeister, die Sage vom Sperlingsbann.
»Ist natürlich blöd, wenn du den Gästen erzählst, dass es in Meusebach keine Spatzen gibt und dann sitzt hinter dir auf dem Dach so ein Vieh und pfeift fröhlich sein Liedchen. Verräter.«
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Er lacht. Es ist ein Jürgen-Klopp-Lachen, dröhnend, raumgreifend, meckernd, irgendwie freudig erstaunt, dass die Welt so widersprüchlich und damit absurd ist. Es ist ein Lachen, das wir in den nächsten Tagen mehrmals hören werden.
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Wir stehen in der sogenannten Spatzenjägerhalle in Meusebach, auf dessen Ortseingangsschild es heißt: »Meusebach – Das Dorf ohne Spatzen.« Torsten trägt ein schwarzes T-Shirt, auf dem gedruckt ist: »Spatzenjäger«. Hinter ihm an der Theke wird auf einem Aushang die lokale Trinkspezialität angepriesen. Ihr Name: Spatzenhirn.
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Man liegt also nicht komplett daneben, wenn man behaupten würde, keine Spatzen zu haben, sei nicht ganz unwichtig für Meusebach.
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Und weil wir mit Betreten des Orts ständig darauf hingewiesen werden, wollen wir nun GERADE Spatzen entdecken. Was uns nicht gelingt. Aber was sagt das schon aus? Schließlich sehen wir auch keine Wildschweine, obwohl es hier ganz sicher welche gibt. Spielt das überhaupt eine Rolle? Fallen wir etwa auf den Marketingtrick eines Dorfes rein, das sich selbst eine Legende angedichtet hat? Und selbst wenn: Steckt nicht in jeder Legende eine Erzählung über die Welt, so, wie sie sein könnte?
Wie also ist die Welt, in der sich Meusebach befindet? Das Dorf liegt abseits der Hauptwege versteckt und nur über eine Straße erreichbar in einem langgezogenen Tal. An den Seiten steigen die Hänge recht schnell steil an und verlieren sich bald in der herbstlichen Flur. Platz für Ackerbau ist kaum; keine Felder, in deren Erde Spatzen Körner finden könnten. Dafür ist viel Wald und zwischen den Bäumen leben Raubvögel, die kleinere Vögel jagen. Hänge und Baumwipfel können Spatzen nur schwer überwinden. So bleiben sie im Tal, gezwungenermaßen geschieht Inzucht und der fehlerhafte genetische Code macht die Tiere besonders anfällig für Krankheiten: Sie sterben aus.
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Jedenfalls unterscheidet sich Meusebach von den anderen Dörfern unserer bisherigen Reise: Hier hat die Landwirtschaft nie eine große Rolle gespielt. Zwar gab es schmale Ackerstreifen an den Hängen. Doch die waren nur unter Mühen zu bestellen. Jauche und Stroh mussten auf dem Rücken die Stufen hinaufgetragen werden, ein hartes Leben. Diese Vergangenheit spiegelt sich auch im Dorfbild wider: Die ganz großen Anwesen, Höfe, die wie Burgen wirken, sind nicht in der Mehrzahl. Die meisten Häuser wirken kompakter.
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Eine der Ausnahmen ist das Gemeindehaus, eben die Spatzenjägerhalle, in der wir immer noch mit Torsten stehen. Er war keine dreißig, als er zum Bürgermeister gewählt wurde und als eine seiner ersten Amtshandlungen den damaligen Kuhstall kaufte, damit dieser zur Halle umgebaut werden konnte. »Wenn man jung ist, hat man keine Angst«, sagt er. Und erzählt, wie oft er damals nachts wach lag, weil er nicht sicher war, ob er, ob das Dorf die erforderlichen Gelder würde auftreiben können, die es für den Bau brauchte.
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Letztlich wurde es eine Sache, bei der viele aus dem Dorf mitmachten. Von 1500 Arbeitsstunden in Eigenleistung spricht Torsten, von Sanitärinstallation, Kabelgraben, Elektrik, Dielung, lauter Tätigkeiten, die die eigenen Leute machten. Und wer einmal mithalf, dem liegt die Halle besonders am Herzen. Heute hängen im Treppenaufgang gerahmte Fotos von den Faschingsfeiern, die hier stattfanden; Frauen als »Rockerbräute« verkleidet, Männer als Frauen, Motto: »In Gallien tobt die Sau« oder »Weltall, Erde, Kälberstall«.
Wir laufen die Treppen hoch in die erste Etage, kommen so ins Gemeindebüro. An die Wand ist das Bild des Dorfs gemalt, auf den Hügeln prangt ein dem Hollywood-Schriftzug nachempfundenes Meusewood. Im Glasschrank stehen diverse Mitbringsel von einer gemeinsamen Reise nach Amerika. Während wir schauen, druckt Torsten Handzettel aus, die zum bald anstehenden Faschingsauftakt einladen.
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Torsten wird die Zettel verteilen. Und wenn die Feier ist, wird er Fotos machen. Er ist der, der festhält, was geschieht. Vor einigen Jahren erschien die Dorfchronik als gebundenes Buch. Unser Meusebach. Ein Heimatbuch heißt es, fast dreihundert Seiten. Sechs Jahre arbeitete Torsten daran. Suchte Archive in ganz Thüringen auf, um etwas über die Herren von Meusebach, die Namensgeber des Orts und frühere Herrscher, herauszufinden. Er sammelte Sagen und bat die Dorfbewohner um Anekdoten und Berichte. Sie erzählen von wehrhaften Wildschweinen, Pioniergruppen, dem alten Holzmeiler.
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Auf den vielen abgedruckten Fotos sieht man Torsten und die anderen aus dem Dorf in den verschiedenen Jahrzehnten. Als Kinder, als Jugendliche, junge Eltern, bärtig, mit langen Haaren, so wie heute. Es sind Gruppen von Männern und Frauen, die vor der Kamera posieren, immer macht einer eine alberne Geste. Darunter sind penibel die Namen der Abgebildeten aufgeführt.
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Nach der Wende spielte Torsten ernsthaft mit dem Gedanken, in den Westen zu gehen. Dort gab es viel mehr zu verdienen. Doch er konnte sich nicht durchringen. »Das klingt jetzt vielleicht kitschig«, sagt er, »aber Meusebach ist die Heimat. Immer, wenn ich mit dem Motorrad die Straße einfahre, die Bäume und die Hänge sehe, dann ist das zuhause.«
Am späten Mittag versammeln sich vor der Spatzenjägerhalle etwa dreißig Menschen, ein gutes Drittel der Dorfbewohner. Familienwandertag. Einige, die nicht so gut zu Fuß sind, werden mit dem Auto zum Ziel – einer Waldhütte – gefahren. Torsten und Christian haben vorher schon mehrere Getränkekisten an der Stelle im Wald versteckt, wo später die Rast sein soll.
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Nach einer kurzen Ansprache setzt sich die Gemeinschaft in Bewegung. Schnell zeigt sich, was den Wandertag ausmacht. Ständig kommen kleine Grüppchen neu zusammen und geraten so in neue Gespräche. Beziehungen werden aufgefrischt, man bringt sich gegenseitig auf den aktuellen Stand der eigenen Leben. Gemeinsam begehen die Bewohner die Grenzen ihres Orts, vergewissern sich so ihres Zuhauses. Dabei erzählen die Älteren den Jüngeren von früherer Zeit, berichten vom Wald, den Tieren, den Bäumen, der Natur.
Neben uns läuft Jürgen, Torstens Nachfolger im Bürgermeisteramt. Er ist Jäger, arbeitet in der Verwaltung. Jürgen zeigt auf Bäume, sagt, wenn sich die Rinde schäle, sei der Baum krank. Dann müsse man fällen, um die umliegenden Bäume zu schützen. Er redet vom Wald und wie alles zusammenhängt, natürlich vom heißen Sommer und dem Klimawandel und was der für Folgen haben werde. Es werde weniger Fichten geben, dafür mehr Tannen. Dem Wald sei das egal, sagt er. Aber der Mensch werde das merken. Die Holzverarbeitung sei auf Fichte, nicht auf Tanne ausgelegt.
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Wer im Wald arbeitet, der denkt in anderen Zeiträumen. Wenn ein Baum fällt, dann ist der oft älter als ein Menschenleben. Und wird ein neuer gepflanzt, dann wird dieser älter als ein Mensch werden. Das, was man heute tut, wird sich erst in Jahren und Jahrzehnten zeigen. Das fordert ein anderes Denken.
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Jürgen sagt, dass die Förster einen Kodex haben, der immer zuerst dem Wald verpflichtet sei. Gleichwohl herrscht eine Menge wirtschaftlicher Druck, Ökonomie gegen Ökologie. Verträge schreiben vor, wie viel Holz geliefert werden muss und diese Verträge müssen erfüllt werden, selbst, wenn der Wald das gerade nicht hergibt.
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Was heute nicht geschlagen wird, ist morgen vielleicht schon morsch und damit ökonomisch nicht mehr verwertbar. So gibt es einen ständigen Wettstreit darüber, was der Wald sein soll: Ein Ort zum Spaziergehen, zum Wandern, zum Hüttenbauen. Oder ein bestelltes Feld, ein Wirtschaftsraum, in dem sich sehr viel zu Geld machen lässt.
Der Weg, den wir wandern, ist recht anspruchsvoll, beständig geht es bergauf. Nach einer halben Stunde sind nicht wenige dankbar für eine Rast. Die Männer holen die im Gebüsch versteckten Getränkekisten hervor. Jemand lässt einen Beutel Bonbons herumgehen. Wieland, der Chef der Feuerwehr, gibt zur Freude der Kinder dem Hund seiner Tochter, den er gerade in Pflege hat, einen Schluck Bier zu trinken. Eine Viertelstunde stehen wir so zusammen, gehen dann weiter, wieder mischen sich die Gruppen, finden neue Gespräche statt.
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Wir reden übers Arbeiten. In der nahen Umgebung gibt es Möglichkeiten dafür, keine Selbstverständlichkeit in Thüringen. Die Meusebacher sind daran gewöhnt, außerhalb ihres Orts Geld zu verdienen und nicht aufs Feld zu gehen. Durch die nahegelegene Autobahnanbindung ist das Weite nicht wirklich weit weg. Selbst Weimar nicht, wo mehrere aus dem Ort gelernt oder gearbeitet haben. Torstens Frau Sylvia erzählt, dass ihr die Stadt schon manchmal fehlt, dass sie gern mal was erleben will, mal weggehen. Rolands Frau hört das und sagt, dass sie nicht immer in Meusebach sein kann. Einmal schaut sie halb ironisch, halb nachdenklich ihren Mann an und spricht dann von der Kaninchenfelljacke, die er ihr zur Hochzeit versprochen hatte. »Die hast du mir nie gemacht«, meint sie.
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Torsten erzählt, dass die SPD bei einer Wahl einmal fast zwei Drittel der Stimmen erhielt. »Da kamen die Reporter und fragten: Nun sagen Sie mal, warum sind Sie das rote Dorf? Bei der nächsten Wahl kriegte die NPD 15%, da war der Reporter wieder da. Was sollte ich dem dann sagen?« Er überlegt einige Waldmeter lang, sagt dann: »Naja, was auf dem Wahlzettel steht, muss auch gewählt werden dürfen.«
So erreicht die Gruppe die Waldhütte. Dort liegen Würste auf dem Rost. Wer will – und das sind so gut wie alle – lässt sich eine ins aufgeschnittene Brötchen legen, dazu Senf oder Ketchup. In der Hütte selbst ist es so warm wie in einer Sauna, weshalb kaum jemand darin ist. Die meisten sitzen und stehen davor, essen, reden, trinken. Manche der Kinder ziehen sich in die Farne zurück, sammeln Stöcke und schichten Moos zu großen Haufen auf.
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Am Tisch kümmert sich Wieland um eine Spezialität des Orts: Knoblauchbrot. Das ist auf dem Grill schwarz geröstetes Mischbrot, das in der »zarten« Variante auf einer Seite mit einer Knoblauchzehe eingerieben wird, in der »harten« von beiden Seiten. Darauf kommt reichlich Salz. Eine Schüssel voll mit geschnittenen Knoblauchzehen steht bereit. Eine Gruppendynamik entsteht, die jeden dazu bringt, zumindest ein Brot nehmen zu müssen.
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Wieland ist Chef der Feuerwehr und das seit vielen Jahren. Sobald er sechzig Jahre wird, muss er das Amt abgeben. Dann braucht es einen Nachfolger und den gibt es noch nicht. Das bereitet ihm große Sorgen. Er und seine Frau haben ein kleines Mädchen dabei. Es ist nicht ihre Enkelin, sondern die Enkeltochter des Köhlers. Um die kümmern sie sich oft. Wie ein eigenes Kind sei die Kleine, sagen sie. Der Hund von Wielands Tochter macht sich bemerkbar. Er verlangt nach mehr Bier. Wieland reicht ihm die Flasche zum Lecken, »Der ist daran gewöhnt, der will das so«, sagt Wieland.
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Am Rost steht Roland, den sie Rolli nennen und wendet die Würste. Er trägt ein himmelblaues FCC-Shirt. Als das Gespräch irgendwie auf Erfurt kommt, fragt er verdutzt: »Erfurt, was soll denn das sein? Noch nie gehört.« Eine Woche später wird er die sechs Hähne von Bea, der Restauratorin vom alten Forsthaus, schlachten, schnell und schmerzlos, so wie er das auch bei Kaninchen und Schweinen macht. Ansonsten ist er Elektriker. Zusammen mit Uwe hat er die Elektrik im Gemeindehaus installiert.
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An der Hütte zu sein, fühlt sich wirklich nett an. Jeder kennt jeden beim Namen. Und jeder kümmert sich um die Kinder, gleich, ob die eigenen und die der Nachbarn. Peter zeigt den Kleinen, wie man auf einer Flasche pfeift. Jürgen, der Bürgermeister, baut spontan eine Wippe. Der Familienwandertag bekommt so eine doppelte Bedeutung. Sowohl für Familien im eigentlichen Sinn als auch: Hier geht eine große Familie auf Wanderschaft. Das Dorf, oder besser, ein Teil des Dorfs befindet sich in einer Art familiären Struktur, einer Gemeinschaft, die zwangsweise zusammengehört, verbunden durch den Wohnort.
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Dafür hat sie Rituale gefunden, um das Zusammenleben zu gestalten; Feste, Wandertage, Zusammenkünfte. Und auch wenn aus diesem Familienbegriff die typischen familiären Folgen erwachsen – Streitigkeiten, auch mal Genervtsein von zu viel Nähe – steht letztlich ein Miteinander höher als das Nebeneinander.
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Als es dunkel wird, bricht die Gruppe auf. Für den Rückweg wählen wir eine kürzere, dafür steilere Strecke. In der Dunkelheit ein gewagtes Unterfangen, gerade für die mit den Kinderwägen. Einige der Kleinen tragen Lampions in den Wald. Wenn sie zwischen den Stämmen gehen, werfen die Bäume weite Schatten. Dann scheinen es Lichter von Fabelwesen zu sein. Als wir durch Alt-Meusebach laufen, der Enklave des Köhlers, geben Wieland und seine Frau die Kleine bei der Mutter ab. Ein Schwätzchen dazu, ein Vorstellen beim Köhler, der auch Waffenschmied ist, eine Verabredung für den nächsten Tag wird getroffen.
Dann stehen wir wieder an der Spatzenjägerhalle, dem Beginn unseres Ausflugs. Wir sehen die Fachwerkhäuser, deren Fassadenfarbe zum Teil aus Quark und Ei angerührt ist. Im Meusebach, der sich durch parallel zur Dorfstraße in einer Art Kanal entlangschlängelt, wächst das Drüsige Springkraut, eine invasive Spezies, die sich hier angesiedelt hat und regelmäßig entfernt werden muss. Vor einigen Jahren lief der harmlos erscheinende Bach über, ein Haus wurde überflutet.
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Rechts von der Halle, vorbei an der Informationstafel mit der identitätsstiftenden Sage vom Sperlingsbann, vorbei am Maibaum, führt ein schmaler Treppensteig nach oben. Auf halber Höhe steht ein Tulpenbaum, über zweihundert Jahre ist er alt. Den gesamten Thesaurus zu plündern würde nicht ausreichen, um auch nur annähernd die prächtige Schönheit des Baums zu beschreiben, die Farben der Blätter, die sich im Minutentakt zu ändern scheinen.
Darüber liegt Beas Haus, ein Anwesen mit mehreren Stockwerken, Gärten, Ställen, rund geschichteten Holzstapeln. Überall Blumen, kunstvolle Gebilde, Hängematten. In großen Töpfen kochen Quitten. Bea restauriert. In ihrem Atelier liegen beschädigte Kunstwerke – Gemälde, Wappen, Altäre – die sie für Museen, Kirchen, Archive wiederherstellt. Vor zwanzig Jahren kaufte sie das Haus, ein Geschenk an sich selbst, wie sie sagt. Seither ist das ihr Lebensmittelpunkt. Ihr Zuhause hat viele Zimmer. Und noch mehr offene Türen. Oft lädt sie Freunde ein, die dann Tage oder Wochen in der Stille von Meusebach verbringen. Handynetz gibt es nicht, telefoniert wird mit dem Festnetztelefon.
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Ihren Platz im Dorf und der Gemeinschaft hat sie behauptet. Ist dabei auf den Festen, sagt aber auch klar, was ihr nicht passt. Für den Ort hat ihr Haus eine besondere Bedeutung: Einst war es ein Stammsitz der Herren von Meusebach, später war hier die Revierförsterei, viele Jahre Tanzsaal und Gemeindehaus. In ihrer Werkstatt wurde früher gefeiert. Für die Leute im Dorf ist das Haus sehr vertraut, nicht selten kommt es vor, dass sie zu Bea hochgehen und schauen, wie es jetzt dort aussieht.
Abends sitzen sie zusammen in der Küche am langen Holztisch, knacken Walnüsse, greifen in die Schüssel mit dem Haribo, trinken Wein: Beas Familie, Künstlerfreundinnen und Bekannte, Leute aus dem Ort, Rolli und seine Frau, Torsten, Sylvia, es gibt viel zu erzählen. Die weite Welt ist da und ganz klein am Ort, über alles wird gesprochen, die Junggesellen, Trump, alte Geschichten vom Wandertag. Im Ofen brennt Feuer die Luft warm, immer legt einer der Hunde die feuchte Schnauze auf einen Schenkel.
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Vor einigen Monaten ist Philipp aus Dresden zu Bea gezogen. Er ist Schmied, möchte einer werden, will dafür lernen. In einem Teil des Hühnerstalls wird bald seine Schmiede sein. Spät in der Nacht zeigt er uns den Stall. Einen mobilen Amboss wird er dort hinstellen. Meusebach wird dann zwei Schmiede haben, Philipp, den jungen Kunstschmied und Dieter, den Waffenschmied im Ruhestand.
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Die Nacht ist längst da, als wir unser Quartier aufsuchen. Eines der ersten Häuser im Ort. Drei Zimmer sind zur Miete. Eine Internetseite gibt es nicht, die Gäste finden die Löschers durch Mundpropaganda. Auch wir sind nur durch einen glücklichen Zufall auf sie aufmerksam geworden. Auf der Straße haben wir uns getroffen, sie gingen gerade mit dem Enkel zum Spielplatz beim Dorfteich, wo im Sand Plastikbagger, Eimer, Bälle liegen. Jedes Kind darf damit spielen.
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Marion und Peter arbeiten die Woche über in Berlin Mitte. Freitag Abend kehren sie ins Dorf zurück. Ein größerer Gegensatz ist kaum vorstellbar – dort das Zentrum des Landes, hier neunzig Einwohner in einem kleinen Tal. Sie machen keinen Hehl daraus, wo es ihnen besser gefällt. In einem Jahr gehen sie in Rente, den Ruhestand sehnen sie herbei. Dann sind sie im Ort, haben mehr Zeit für ihre kleine Pension, für das Enkelkind.
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Wenn sie über das Dorf sprechen, verwenden sie beide unabhängig voneinander den Begriff »Heile Welt«. Und beide erzählen die Geschichte, wie sie 1991 herkamen. Die Wohnung in Stadtroda wurde nach der Wende zu teuer, sie mussten etwas Neues suchen. Sie zogen auf die Baustelle, in den Umbau ihres Hauses. Bei der Ankunft hing über Nacht ein Schild an ihrer Tür: »Herzlich Willkommen.« Der Gedanke daran freut sie heute noch.
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Am nächsten Morgen, als wir beim Frühstück sitzen, das Marion für uns zubereitet hat, kommt Peter dazu und empfiehlt uns, beim Abfischen vorbeizuschauen. Vor den Toren Meusebachs liegen einige Teiche. In denen schwimmen Karpfen, Schleie, Forellen. Wenn der Herbst kommt, werden sie aus dem Wasser geholt.
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Und das geschieht so: Auf der einen Seite ist der Teich. Unter dem Damm führt eine Schleuse hindurch, die an einem Auffangbecken mit Gitter endet. Liter um Liter wird das Wasser abgelassen. Die Fische rutschen durch die Schleuse und sammeln sich im Becken. Dort stehen die Kinder und warten mit einem Käscher auf die Tiere. Auf engem Raum sind die Fische leicht zu erwischen. Wenn wieder Wasser durchgelassen wird und damit neue Fische kommen, herrscht große Aufregung. »Fang ihn, fangt ihn«, rufen die Jungen dann, der Kleinste schreit am lautesten.
Die Tiere heben sie in ein anderes Becken, das später am Tag auf einen Bauernhof gebracht wird. Dort können Käufer ihre Weihnachtskarpfen aussuchen. Einige der Fische werden wieder in den Teich eingesetzt, sie sind die Grundlage für die Zucht des nächsten Jahres. Etwa zweihundert Fische sind im Teich. Karpfen, die älter als zehn Jahre sind, bleiben am Leben.
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Ein Ruf erschallt: »Das wars Männer.« Im Teich ist kaum noch Wasser. Nur noch Schlamm. Doch auch dort ist noch Bewegung: das Zappeln der übriggebliebenen Tiere. Die müssen nun mit der Hand geholt werden. Zwei der Männer schlüpfen in die Wathose und gehen in den Teich. Bis zu den Oberschenkeln sinken sie im Matsch ein. Sie graben die Karpfen aus der Schlacke. Befreit vom Schlamm, schlagen diese um sich, bespritzen die Gesichter der Männer mit Dreck. »Kostenloses Peeling«, ruft einer vom Ufer.
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Die Männer werfen die Fische in Kisten. Es dauert eine ganze Weile, bis diese Arbeit erledigt ist. Zum Schluss ziehen sie Furchen in den Schlamm, damit das restliche Wasser ablaufen kann. Finn, einer der Jungen aus dem Dorf, läuft zum Teich. Außer Atem bleibt er auf dem Damm stehen und schaut enttäuscht auf den leeren, jetzt fischlosen Teich. »Immer komme ich zu spät«, ruft er, »blöde Hausaufgaben.« Eine der Mütter hört das. Sie fragt ihren Sohn, der dieselbe Klasse wie Finn besucht und die letzte Stunde viele Fische mit dem Kärcher einfing: »Ihr hattet Hausaufgaben? Davon hast du mir nichts erzählt.«
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Währenddessen krabbelt ein Baby unten beim Fischbottich. Die Kleinen sind von Anfang an und immer dabei; im Sommer sehen sie die Fische beim Schwimmen im Teich, im Herbst fangen sie sie, im Winter essen sie die Tiere.
Länger können wir nicht bleiben, denn elf Uhr haben wir eine Verabredung in der einzigen und zugleich inoffiziellen Kneipe des Orts. Die befindet sich in Dorfmitte, im Erdgeschoss eines glücklicherweise maroden, abrissreifen Häuschen. Glücklicherweise weil: Wäre das Gebäude bewohnt, gäbe es diesen Ort nicht.
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Und das wäre schade für die Männer und sicher würden auch die Frauen das bedauern. In guten Zeiten hisst Volker, der heimliche Wirt, drei Mal die Woche eine blaue Fahne mit schäumenden Bier, damit jeder weiß: Jetzt ist geöffnet. Die Einheimischen nennen diese Kneipe eine Kirche, weil die Gebetsbücher hier Henkel haben.
Einmal drinnen, lohnt es sich, die Augen wie eine Kamera durch den Raum gleiten zu lassen. Zwei Tische sind zu einem zusammengeschoben. Darum gruppieren sich Sessel und Stühle, die mehrheitlich herbstfarbenen Sitzpolster durchgesessen. Manchmal stehen sie in Zweierreihen. Am Eingang wartet eine ausrangierte Theke, auf dem alten Sofa sind Plüschtiere arrangiert.
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An den Kacheln des alten Ofen sind Posterkarikaturen von Conchita Wurst und Deutschland sucht den Superkanzler geklebt. An den Wänden hängen Plakate vergangener Blasmusikkonzerte und ein gerahmtes Skatblatt. In einer Ecke lehnt eine zusammengerollte DDR-Fahne. Auf dem Deckel des verstimmtem Klaviers, in dem angeblich Mäuse hausen sollen, steht der abgerissene Monat eines Pin-Up-Kalenders. Die Zeiger der Wanduhr sind stehengeblieben.
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An Spirituosen besteht kein Mangel. Es gibt Apoldaer, Wernesgrüner, Ur-Krostitzer. Wenn jemand aus dem Dorf verreist, bringt er traditionell ein alkoholisches Getränk aus dem besuchten Land mit. Geraucht wird nur in Ausnahmefällen, das hat Rolli durchgesetzt. Und wenn doch, werden zugleich die Räucherkerzen angezündet, gleich, ob Sommer oder Winter.
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»Ich war vorhin beim Abfischen«, erzählt Peter, der direkt vom Teich in die Kneipe gekommen ist, »Karpfen, so groß wie Schlachtschweine. Ohne Mist, die wird er nicht los, die schmecken nach Schlamm.« »Ach, Achtzehn-Kilo-Karpfen, da biegen sich doch die Balken«, sagt Rolli.
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Die Begebenheiten, die besprochen werden, wurden an dieser Stelle oft schon beredet. Die Männer nicken dazu, bejahen, wiederholen das Gesagte, ergänzen. Hin und wieder gibt es beherzt geführte Scharmützel um Details. Neue Themen kommen auf, Gespräche brechen abrupt ab, jemand betritt den Raum, jemand wird von seinen Kindern zum Mittagessen gerufen, es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.
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Viele Themen stehen nebeneinander. Manche sind schlüpfrig: Wenn für einen Junggesellen eine Frau gefunden werden soll. Manchmal überraschend zart: Wenn es um die Katze im eigenen Bett geht. Manche mitfühlend: Wenn sich nach der Gesundheit erkundigt wird. Es wird verglichen: »Deine Arbeitsschuhe glänzen heute ja wie eine V2«. Lebensweisheiten werden zum Besten gegeben: »Kochen ist keine Kunst, aber Warmhalten«.
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Roland ist der Hausherr. Früher wohnte seine Großmutter im Gebäude. Von seiner Familie will heute keiner hier leben. Verkaufen lässt sich das Haus nicht, denn dafür ist es zu klein und ein Grundstück gehört auch nicht dazu. Irgendwann wird er es abreißen lassen. Doch bis dahin ist diese diskrete Kneipe eben hier.
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Die meisten Anwesenden kennen sich seit Jahrzehnten. Sie haben gemeinsam viele unentgeltliche Arbeitsstunden für den Ort geleistet, das Gemeindehaus mitgebaut, vieles andere mehr. Ein Gleichgewicht herrscht so, eine austarierte Gesellschaft, in der jeder seinen Platz hat, seine Fähigkeiten einbringt, auch Rücksicht genommen wird auf aktuelle Lebensumstände; die Anforderungen, die Familie, Arbeit, Gesundheit stellen. Wer wie Philipp neu im Dorf ist, wird getestet, ob er in diese Gemeinschaft passt, nicht selten aufgezogen und zugleich auf rührige Weise vereinnahmt. Ein Bier aber gibt es für jeden.
Eines der vielen Themen ist die Wende. Volker erzählt, dass er damals nach Bonn fuhr, weil er gehört hatte, dass es dort gleich zwei Mal Begrüßungsgeld geben würde. Theo berichtet, wie er August 1990 sein Fuhrunternehmen gründete. »Das erste 1 ½ Jahr ging es auch problemlos. Doch dann kam der Einbruch, dann kam die Saure-Gurken-Zeit.« Die Männer fachsimpeln über diese Zeit und überlegen, wie lange die dauerte. Sie einigen sich auf 1993. »Damals war es eben ein bisschen wichtig, dass man schnell war«, sagt Peter, »Wer sich gedreht hat, ist auch was geworden.« Wieder zustimmendes Nicken, Bejahung, eine Bestätigung gemeinschaftlichen Wissens.
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Als Philipp über seine zukünftige Schmiede im Stall des alten Forsthauses spricht, erinnern sich die anderen, wie der Stall früher aussah. Anekdoten werden so weitergegeben und Geschichte am Leben gehalten, dazu Neuigkeiten über Menschen des Orts und der Nachbardörfer ausgetauscht.
Die Frauen sagen, dass die Männer manchmal so laut werden, dass man ihren »Unfug« bis auf die Straße höre. Aber – das muss man sagen – immerhin wissen sie so, wo ihre Männer diesen Unfug machen. In der Kirche sind sie dann, nicht anderswo. Das gibt auch Sicherheit.
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Das Zusammensein der Frauen ist weniger regelmäßig als das der Männer, auch nicht an einem festen Ort gebunden. Es gibt Zusammenkünfte, aber über diese wird eher spontan entschieden. Wenn Montag Abend ist und eine neue Folge läuft, dann schauen einige der Frauen gemeinsam Bauer sucht Frau.
Ein Treffen steht noch an. Dafür müssen wir das Dorf auf der Seite verlassen, an welcher die Straße in einen Waldpfad übergeht. Vorbei an den letzten Häusern, an aufgeschichteten Holzstapeln bis zum Franzosen-Kreuz. Hier sollen im vorletzten Jahrhundert die Dorfbewohner einen französischen Soldaten erschlagen haben, um zu verhindern, dass der die Lage des Orts an Napoleon verrät. Im Nachhinein wirft das die Frage auf, ob es Umstände geben kann, unter denen ein Mord zu rechtfertigen ist. Die Dorfgemeinschaft hat das auf ihre Weise beantwortet. Sie hat einen Gedenkstein errichtet.
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Etwa fünfhundert Meter weiter öffnet sich der Pfad zu einer Lichtung. Und hier, hinter dem Ortseingangsschild Alt-Meusebach mit dem Doppeladler, der auf Kaiser und König verweist, bietet sich ein unerwarteter Blick. Doch bevor geschaut wird, zuerst eine Sage, eine zweite nach dem Sperlingsbann.
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Einmal vor vielen hundert Jahren, sagten die Tiere zu den Menschen hier: Solange der Weiße Hirsch lebt, wird es euch gutgehen. Doch die Menschen schossen den stolzen Hirsch und die Tiere sagten: Ihr werdet untergehen und erst wenn wir euch vergeben, werdet ihr zurückkehren können. Und das Dorf wurde zerstört und es dauerte hundert Jahre, bis Wildschweine die alten Kirchenglocken ausgruben und dann wurde im Tal von sieben Brüdern ein neues Dorf gebaut: Neu-Meusebach.
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Auch in dieser Sage verstecken sich mehrere Wahrheiten; über den Dreißigjährigen Krieg, das Miteinander von Natur und Mensch, den Umgang mit dem Wald.
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In Alt-Meusebach fallen zuerst die dickbäuchigen, mehrere Meter hohen Metallboiler auf. Die stehen aufgereiht unter einer Hochschiene, über die ein Kran läuft. Dahinter schützt eine Mauer mit Wehrturm eine mittelalterliche Stadt mit Badehaus, Schmiede und Taverne. Ein See ist hier, ein Schild verweist auf die dort lebenden Bismarckheringe und Moormakrelen. Daneben ein Spitzdachhüttchen mit einem alten Ganter, in einem Stall, der wie ein Fachwerkhaus gestaltet ist, ein Esel. In der Mitte befindet sich eine Art Hexenhäuschen, auch hier ein Schild, das warnt: Betreten verboten! Lebensgefahr. Überall liegt Holz, dazwischen stehen Maschinen, Baufahrzeuge, Förderbänder und Kanonen. Es ist, als träfen hier verschiedene Zeiten und verschiedene Welten aufeinander und als gehöre das genau so zusammen.
Was wir so erstaunt betrachten, gehört Dieter und Petra, die hier zusammen mit ihrer Tochter und deren Familie leben. Petra treffen wir kurz, sie muss gleich weiter in den Wald zur Jagd. 1992 übernahm sie das Gelände von der Treuhand. Seitdem führt sie die Köhlerei, die in Meusebach eine lange Tradition hat, zusammen mit ihrem Mann weiter. Früher warfen sie oft die Meiler an, heute nur noch einmal die Woche. Die Baumarktpreise für Holzkohle machen das Geschäft kaputt.
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Über die Umweltverträglichkeit bei der Köhlerei gibt es unterschiedliche Meinungen. Dieter sagt, der Rauch habe eine heilende Wirkung, der Buchenteer schütze vor Erkältung und vertreibe zudem die Schadinsekten. Nach dem Krieg hätten die Lungenkranken im Liegestuhl vor dem Meiler gelegen, um zu gesunden. Bei schlechtem Wetter zieht der Rauch in den Wald, bei schönem ins Dorf.
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Die Köhlerei ist etwas, von dem man schon gehört hat, eine Tätigkeit, eine Technik aus einer anderen Epoche, so wie Telefonistinnen oder Gaslampenanzünder. Im Prinzip geht es darum, durch Verschwelen Wasser aus dem Holz zu bekommen. Dafür werden Holzscheite in die Metallboiler getan, ein Feuer bringt die Temperatur auf maximal 1200 Grad und wenn alles fertig ist, hebt der Kran den Boiler an. Darunter liegt die fertige Holzkohle.
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Dieter führt uns an den Boilern vorbei in seine Werkstatt. An den Wänden hängen Beile, Schwerter, Pistolen, Harnische, Lanzen lehnen an Regalen, in denen Rüstungsteile gestapelt sind. Der Raum wirkt metallisch und feuerfarben zugleich, irgendwie spitz und gefährlich, wenig aufgeräumt und doch hat alles seinen Platz. Dieter trägt eine Hose mit Camouflagemuster, darüber einen braunen Kapuzenpullover. In seinem Gesicht ein beeindruckend symmetrischer Walrossbart. Er spricht schnell, weil er viele Informationen teilen will, nimmt sich bei Fragen wiederum Zeit, um zu überlegen.
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So erzählt er von der Schlacht von Morgarten, die das Ende des Ritterzeitalters einläutete, berichtet von demokratischen Strukturen bei den Landsknechten und vorgegebenen Plünderungszeiten. Wenn er über Waffen und Krieg spricht, spricht er über Materialien und Handwerk, von Strategien und Ehrenkodexen. Er spricht vom Krieg als einen Zustand mit Regeln, vom Soldatsein als einen Beruf, der Rechte und Pflichten mit sich bringt.
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Wir erfahren von seiner Jugend. Dieter ist ein Nachkriegskind. Er wuchs an der Neiße auf. Dort suchten die Kinder in den Sperrgebieten nach Munition von den Russen und Deutschen. Sie tauchten nach Pistolen und tauschten diese untereinander. Mit sieben Jahren schoss Dieter zum ersten Mal. Einmal baute er eine Granate auseinander, der Zünder explodierte, die Splitter bohrten sich in seinen Körper. Er sammelte Waffen und stellte bald schon selbst welche her.
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So wurde er zum Waffenschmied – ohne Ausbildung, aus eigenem Interesse brachte er sich das Wichtigste bei. Heute ist er einer der wenigen, die das Handwerk noch beherrschen. Spezialisiert hat er sich auf Renaissancewaffen, sächsische und italienische Schauwaffen, die nur vorgeführt, aber nicht im Kampf verwendet wurden. Manchmal muss er feststellen, dass einige seiner Stücke auf ebay als echt gehandelt werden, was ein Vielfaches des Preises bedeutet, für die er sie gefertigt hat.
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Dieter meint, dass sich die Zeiten geändert haben. Im Trend liege gerade alles, was von der Wehrmacht sei; Stahlhelme, SA-Inventar, auf Auktionen werde das teuer versteigert. In Russland seien ganze Dörfer unterwegs und graben alte Panzer aus, für eine Million würden die gehandelt.
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Mittlerweile ist Dieter im Ruhestand. Nun baut er die Waffen, auf die er Lust hat. Zum Beispiel eine Hellebarde für Fredericksburg. Das liegt in Texas und wurde vor über hundert Jahren von einem aus dem Meusebacher Adelsgeschlecht gegründet. Deshalb luden die Amerikaner eine Delegation aus Meusebach, der auch Dieter und Petra angehörten, in die USA ein. Dafür wollte Dieter etwas Besonderes mitbringen, eben eine selbstgefertigte Hellebarde mit Dorfwappen.
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In Texas gefielen ihm besonders die großen Ranches. Dort könne man selbst entscheiden, die Obrigkeit quatsche einem nicht rein. Die in Amerika seien sehr traditionsbewusst, dass man hierzulande das Deutsche ablehne, das verständen die dort nicht. »Wir sind noch in einer kaiserlichen Traditionen verhaftet, der Staat greift überall ein«, sagt er.
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Während wir ihm zuhören, verstehen wir plötzlich: Alt-Meusebach ist auch eine solche Ranch. Oder besser: Ein kleines Königreich mit Wehrturm, Mauern, fähig zur Selbstversorgung. Die Welt hier ist selbstgeschaffen und geformt. Das Draußen ist weit weg, liegt hinter dem Wald, vorbei an den Teichen, das Draußen mit ihren Regeln, ihrer Kontrolle.
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Was wir vorfinden, hat etwas Märchenhaftes: eine Köhlerei, eine Schmiede, der Froschkönig auf dem Brunnen, ein zeternder Ganter, ein störrischer Esel, lauter Figuren und Gebäude aus einer anderer Zeit, einer anderen Wirklichkeit. Im Zentrum dieser wundersamen Lichtung steht ein Ort, in dem Waffen hergestellt werden, Kanonen, die fünf Kilometer weit schießen können. Und so ist noch eine andere Welt in dieser Fantasie, eine weitere Realität. Dieter sagt, dass er einmal Jäger war, heute aber keine Tiere mehr töten könne. Dabei springt die Katze auf seinen Schoß. Sie schmiegt sich an ihn, er streichelt über ihr Fell; ein unwirkliches Bild inmitten der Schwerter an der Wand, der Worte über Lanzen und Stiche, den Krieg als Handwerk.
Alt-Meusebach ist der letzte Ort, den wir vom Dorf sehen. Wir fahren zurück in unsere Wirklichkeit, wo das, was wir von hier erzählen können, wie ausgedacht klingen muss; die fehlenden Spatzen und ein erschlagener Franzose, weiße Hirsche und ein Adelsgeschlecht, das einmal die Geschicke eines Dorfes bestimmte, Männer und Frauen, die auf ihren Rücken Jauche die Hängen hinauftrugen, ein Familienwandertag, zu dem sich das halbe Dorf aufmacht, Kinder, die kaum laufen können und schon Fische mit dem Käscher fangen, der Waffenschmied und sein Reich.
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Kein Rauch hängt über dem Tal. Keine Spatzen zwitschern. Die Dunkelheit kommt zeitig, denn die Sonne geht früh hinter den Bergen bei Meusebach unter. Aber das macht nichts. Überall ist es hell, in jedem Haus brennt Licht.