Niederlassung

Vor über 500 Jahren sollen 25 Familien aus dem Dorf Godermann auf das Gebiet des heutigen Gerstengrunds geflüchtet sein. Zu dieser Zeit gab es nur ein Gehöft dort. Die abgelegene Ferne war für die Geflüchteten der Niederlassungsgrund, sollten sie doch in ihrer Heimat vom katholischen zum evangelischen Glauben gezwungen werden. Sieben Familien blieben dauerhaft in der Diaspora. Von den Hunderttausenden Geflüchteten, die 2015 nach Deutschland kamen, hat sich keiner im Ort niedergelassen. Dabei war man in Gerstengrund bereit, das Gemeindehaus für sie einzurichten und dass auch ohne Zwangsbekehrung zum im Ort dominierenden katholischen Glauben. War es die Angst vor Katholiken oder die vor der Abgelegenheit? Gerstengrund jedenfalls scheint zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich attraktiv für Geflüchtete zu sein.

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Schichtarbeit

In Deutschland arbeitet jeder sechste im Schichtsystem. Für Körper und Psyche bedeuten diese ständig wechselnden Arbeitszeiten eine enorme Belastung. Von daraus resultierenden Magen-Darm-Problemen, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Schlafproblemen, ja sogar einer Erhöhung des Krebsrisikos ist die Rede. Das alles ist auch in Gerstengrund bekannt. Trotzdem ließen sich die Gerstengründer Männer nicht von der Arbeit im Drei-Schicht-System abhalten. Denn genau so bauten sie ihre eigene Kirche. Unterhalten wird dieser Bau allerdings nicht vom Bistum Fulda, sondern von der Kommune. Aber es gibt eine enge Kooperation mit den Pfarrern aus Schleid. Sie halten die Gottesdienste in Gerstengrund. Anfang Februar ist die Kirche brechend voll. Die Gerstengründer und ihre Gäste erwarten den Blasiussegen. Dieser soll sie vor Halskrankheiten und allem Bösen bewahren. Die Kirche ist deshalb für die Bewohner ein Segen, lindert sie doch nicht nur eventuelle durch die Schichtarbeit entstandene Gesundheitsprobleme, sondern auch andere körperliche und seelische Probleme.

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Alternativlosigkeitsverweigerung

Alternativlos – mit diesem Wort begründet seit Jahren die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ihre politischen Entscheidungen. Inzwischen hat dies in Teilen der Bevölkerung zu Verdruss geführt. Im fast ausschließlich CDU wählenden Gerstengrund ist man klüger an eine eigentlich alternativlose Angelegenheit herangegangen. Der Ort liegt am Ende eines Tales. Es gibt nur eine Zufahrtsstraße und keine Alternative, den Ort auf andere Weise anzufahren. Um einer frustrierenden Alternativlosigkeit aus dem Weg zu gehen, wurde die Möglichkeit geschaffen, kurz vor dem Ortseingang entweder geradeaus auf den Kirchweg zu fahren oder aber rechts auf der Hauptstraße namens Gerstengrund zu bleiben. Letztlich bilden beide innerorts eine Schleife, so dass man eigentlich immer auf derselben Straße bleibt, aber es doch wenigstens den Anschein einer Alternative hat. Solche ausgefuchsten Taktiker bräuchte die Kanzlerin in den nächsten Jahren für eine erfolgreiche Strategie zur Machterhaltung der CDU.

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Denkmalsdebatte

30 Jahre ist Deutschlands Wiedervereinigung schon her. In Berlin sollte bereits zum 25. Jubiläum eine goldene Wippe gebaut werden. Doch noch immer ist das hoch umstrittene millionenschwere Spielzeug nicht realisiert. Auch in Leipzig scheiterte vor einigen Jahren ein Denkmalsentwurf. Jetzt wird er neu geplant. In Berlin, wie auch in Leipzig, entzündeten sich daraufhin erregte Diskussionen, die bald auf ganz Deutschland übergriffen. Denn die Frage: Wem sollte wie und auf welche Weise gedacht werden? ist für die Nation von großer Bedeutung. Geht damit einher doch die Frage: Was feiern wir? Ist es die Ermächtigung des »Wir sind das Volk«, ein Gedenken an Bürgermut und Zivilcourage oder ist es eine Feier der Demokratie an sich? Die Gerstengründer, die gezwungenermaßen Jahrzehnte in einer 5-km-Sperrzone leben mussten, konnten diese Frage schon vier Jahre nach der Wende beantworten. Sie errichteten zum Dank für die Wiedervereinigung Deutschlands eine Mariengrotte. Dort wird jedes Jahr an »Maria hilf« zu einer aus Italien importierten weißen Gottesmutter gebetet.

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Sprachrettung

Jeder kennt das Sprichwort: Wer rastet, der rostet. Auch die Traktor besitzenden Gerstengründer Bauern. Damit der Rost nicht ihre Maschinen bedroht, werden die Traktoren so viel wie möglich bewegt. Morgens, mittags, abends, ja sogar am Sonntag vor, während und nach dem Gottesdienst: Ständig fährt ein Traktor durchs Dorf. Würden die Bauern das nicht tun, könnte sich womöglich das Sprichwort drehen. Dann hieße es: Wer rostet, der rastet. Was ja auch nicht falsch wäre. Damit aber diese Variante keine Chance zur Etablierung in der deutschen Sprache hat, arbeiten die Gerstengründer Männer mit aller Macht dagegen an und retten neben ihren Traktoren zugleich ein altes deutsches Sprichwort.

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Die beige Welt

Die Farbe Beige wird überwiegend mit älteren Menschen in Verbindung gebracht. Ganze Forscherzweige arbeiten an der Dechiffrierung der überwiegenden Farbpräferenz alter Leute. Zum Verständnis der Beigeneigung hilft ein Blick in den Schafstall. Denn auch hier gilt: Jung trägt kräftige Farbe, Alt trägt Beige. Wissenschaftlich bereits gesicherte Gründe für die Änderung der Farbpräferenz sind: 1. Der Herdentrieb: Man passt sich an die jeweilige Peergroup an. 2. Die Tarnung: Man schützt sich – lebenserfahren – in der beigen Gruppe vor Raubtieren und anderen gefährlichen Bedrohungen. Letztlich heißt das aber nicht anderes, als dass sich Schafe und Menschen nicht groß unterscheiden. Unsere biologische Verwandtschaft zu den Schafen ist wohl doch enger als bisher angenommen.

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Parkplatzidylle

Die Koordination der mit dem Auto anreisenden auswärtigen Besucher der Messe in Gerstengrunds Kirche funktioniert ohne ausgefeilte Parkleitsysteme, markierte Fahrgassen und ausgewiesene Stellplätze. Und sogar so, dass Benutzer für die Parkraumbenutzung nicht zur Kasse gebeten werden. Man könnte Gerstengrund auch anarchisches Parkplatzparadies nennen. Oder aber als Beispiel dafür nehmen, dass so manches im Land auch ohne Reglementierung recht gut funktionieren kann.

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Angewandte Spitzenforschung

Die Gerstengründer Kinder haben keinen Spielplatz im Ort. Zwar wurde im Gemeinderat einstmals über einen Spielplatzbau abgestimmt, aber sogar Eltern votierten dagegen. Warum auch sollte sich der Nachwuchs an ein paar Metallstangen besser vergnügen können als in Feld, Wald oder Wiese? Mit dieser Idee des Spielplatzfastens wären die Gerstengründer der perfekte Forschungsstandort für Bayern. Denn deren Regierung steckt viel Geld in die Forschung, um die positiven Segnungen des Spielzeugverlustes zu untersuchen. Im Projekt SAKEF werden in langjährigen Versuchsreihen von Pädagogen Erkenntnisse über fehlende Spielgeräte gesammelt. Dabei könnte eine mehrtägige Expeditionsreise nach Gerstengrund reichen. Reisekosten in den Osten sind überschaubar. Bayern würde sparen und zugleich der Westen vom Osten lernen, dass die Natur der schönste und beglückendste Spielplatz der Welt ist.

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Milchkannen-Debatte

»5G ist nicht an jeder Milchkanne notwendig«, sagte die Bundesforschungsminister Anja Karliczek (CDU). Sie wurde viel dafür kritisiert, aber einige Bauern von Gerstengrund, die neben ihrer eigentlichen Arbeit einen Kuhstall betreiben, stimmen ihr zu. Diese Männer genießen im Stall die Freiheit der Nichterreichbarkeit durch Handys. Von totaler Internetverweigerung kann aber nicht die Rede sein. Haben doch die Männer aus eigenem Antrieb mit Muskel- und Traktorkraft Unmengen an Erdmassen bewegt, um sich das Internet mittels Kabeln über einen Berg hinweg einfach selber ins Dorf zu legen. Seitdem kann sich Gerstengrund Thüringens schnellstes Dorf nennen. Zumindest bezüglich Übertragungsgeschwindigkeit. Würde nun ganz Deutschland den Gerstengründern nacheifern, wäre das Land wohl eine gigantische Baustelle. Besser ist deshalb, man vertraut den Telekommunikationskonzernen. Deren Manager wissen ja auch viel besser, wer wirklich Internet braucht und wer nicht. 5G wird Gerstengrunds Bauern und Milchkannen deshalb wohl nicht drohen.

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Kuhstall-Galerie

Kunstgalerien sind exquisite Orte, welche in der Regel von Kuratoren mit Doktortitel mit Kunstwerken bestückt werden. Auf Thüringer Dörfern gibt es nur wenige Galerien. Eine davon steht in Gerstengrund. Sie tarnt sich als Kuhstall und ist lediglich auf Einladung der Besitzer zu besichtigen. Kurator ist ein Bauer. Aufgrund des nicht vorhandenen Katalogs und der fehlenden Möglichkeit einer öffentlichen Begehung werden im Folgenden einige der Kunstwerke, die unter herausragender Kuration, Eingang in die Galerie fanden, erstmals einer großen Öffentlichkeit vorgestellt:

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1. Von Kühen lernen

»Germany’s next Topmodel« beweist, dass sich menschliche Frauenkörper gut auf dem Fernsehmarkt verkaufen lassen. Diesem durchs TV verstärkten Schönheitsideal werden mit Essstörungen und Depressionen auch negative Auswirkungen zugeschrieben. Der Einzug von Kühen als Pin-Ups in Kalendern deutet auf eine Ausweitung eines idealisierten Schönheitsbildes auch auf Kuhkörper hin. Was, wenn die Kühe nun ebenso Essstörungen und Depressionen entwickeln? Was ist mit deren Fleisch? Und geben zu dünne Kühe überhaupt Milch? Auf dem Markt dürften diese tierischen Schönheiten wohl nur wenig Geld erwirtschaften. Besser also die Pin-Ups ziehen wieder aus. Und jetzt könnte man mal über dieselbe Strategie beim Menschen nachdenken.

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2. Ulbrichts Leben

Hoch oben an der Stallwand hängt das Bildnis Walter Ulbrichts, des ersten Vorsitzenden des Staatsrats der DDR. Unter ihm wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft betrieben, die Mauer gebaut und das Ministerium für Staatssicherheit gegründet, welches auch gegen vermutete Feinde aus den kirchlichen Gemeinschaften vorging. Dass Ulbrichts Bildnis aus einem öffentlichen Gebäude in einen Kuhstall gewandert ist, ist deshalb als Wertung des Abgebildeten und des Personenkults um den Stalinisten zu sehen. Eine weitere Zuschreibung kommt in Gestalt eines Abfallhaufens zu Füßen des Gemäldes hinzu. Dieser verkörpert auf drastische Weise den Misthaufen der Geschichte. Als Installation befindet sich neben Ulbrichts Portrait eine Leiter. Auch diese ist ein Symbol, steht sie doch für das Hochklettern auf der Karriereleiter und zusätzlich für die Möglichkeit des tiefen Falls von eben jener. Das alles versinnbildlicht Ulbrichts Leben.

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3. Pädagogisches Experimentierfeld

Die Leiter-Installation wurde am Boden zum Schutz experimentier- und sprungwütiger Besucher mit einem Strohhaufen abgefedert. So ist die Imitation des Aufstiegs und tiefen Falls ohne Verletzungsgefahr möglich. Die Galeriebesitzer animieren insbesondere den Nachwuchs unter Aufsicht zur Nutzung der Installation. So können Kinder und Jugendliche nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die mächtigen Wirkweisen der Geschichte am eigenen Leib erfahren und werden, so die Hoffnung, derartige Systemkarrieren vermeiden. Dass das Ganze unter Beobachtung und unter dem Schutz Gottes steht, macht die Hängung weiterer Objekte an der Wand deutlich.

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4. Raubtierkapitalismus

Wir lieben Lebensmittel. Seit einigen Jahren wirbt Edeka mit diesem Claim für die von ihnen verkauften Waren. »Wir lieben Lebensmittel« soll den Unique Selling Point des Unternehmens verbraucherwirksam transportieren. Zu den geliebten Lebensmitteln gehört selbstverständlich Fleisch. Auch aus Massentierhaltung, aus engen Kuh- und Schweineställen und Legebatterien. Mit dem Einbau der Edeka-Tür im Kuhstall und dem damit freigegebenen Blick auf freilaufende Hühner und Gänse wird der Marken-Claim radikal auf seinen Kern reduziert: Unbezweifelt, Edeka liebt Lebensmittel. Die Kunden ebenfalls. Aber diese Liebe fordert eben auch den Tod ein. Der Einbau der Edeka-Tür in der Gerstengründer Galerie ist zusätzlich ein ebenso intelligenter Fingerzeig auf die aktuelle Situation im Dorf. Einen Laden gibt es nämlich nicht. Und um bei Edeka tote Tiere zu kaufen, müssen die Bewohner des Dorfes schlappe 11 km fahren.

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