Noblesse oblige (Adel verpflichtet)
In Kühdorf frönt man der Liebe zum Pferd. An allen drei Enden des Dorfes leben Pferdezüchter. Und überall wird dem Pferd gehuldigt. So finden sich Gemälde an Außen- und Innenwänden, ja sogar auf Kuchen. Es gibt Skulpturen aus Glas, Eisen, Porzellan und Bronze auf Zäunen, in Wohnzimmern und im Museum. Und natürlich leben auch echte Pferde aus Fleisch und Blut im Ort. Da man mit der Zeit gehen und sich seiner Identität auch namentlich versichern muss, sollte Kühdorf vielleicht doch besser Pferddorf heißen. Doch halt: Noblesse oblige! Das Dorf heißt ja schließlich nicht Kuh- sondern Kühdorf! Behält man die Tradition der vornehmen zwei Pünktchen bei, könnte der neue Name vielleicht Pfärddorf oder Pförddorf lauten.
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Newtons Erben
Ein Kirschbaum mit Millionen Kirschen steht ungepflückt am Dorfspielplatz. Weil die Kühdorfer Eltern ihre Kinder fast nie dort spielen lassen, droht den Kinderköpfen keine Gefahr durch herunterfallende Fruchtkörper. Wahrscheinlich warten die Eltern bloß auf das Herabfallen der nächsten Fruchtart am Spielplatz. Einen Apfelbaum gibt es da nämlich auch. Wie klug diese Entscheidung ist, zeigt die Wissenschaftsgeschichte. Schließlich hatte ein auf seinen Kopf fallender Apfel einstmals Isaac Newton zur bahnbrechenden Formulierung des Gesetzes über die Schwerkraft geführt. Dieses besondere Mittel der Erkenntnis sollten die Kühdorfer Eltern maßvoll einsetzen. Der Apfelbaum nämlich ist voll, fast so voll wie der Kirschbaum.
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Varianten an Lebensgefahr
Vier Teiche nennt das Dorf sein eigen. Und das heißt vier Mal Lebensgefahr. Kühdorf legt in jedem Bereich Wert auf Individualität. So auch hier. Und deshalb ist die Lebensgefahr an jedem Teich eine gänzlich andere. In Teich 1 werden zarte Goldfischopfer vom Fressfeind Katze gejagt. In Teich 2 werden niedliche Würmer, Schnecken und Frösche von gierigen Enten vertilgt. Am Teich 3 werden unschuldige Hechte und Schleien einmal im Jahr von Pfannenjägern getötet. Und im Teich 4 werden die Licht- und Sauerstoff liebenden Wasserbewohner von den grünen Wasserlinsen erstickt. Aber immerhin sind die Menschen vor maximaler Lebensgefahr geschützt. Befindet sich doch an jedem Teich ein Gitter. Gut, es führt zwar höchstens um ein Viertel des jeweiligen Teiches, aber damit ist die Lebensgefahr auf erträgliche 75 Prozent reduziert.
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StVO
In Kühdorf gibt es ein Ober-, ein Mittel- und ein Unterdorf. Wer von der Bundesstraße kommt und in den Kreisel fährt, landet direkt im Mitteldorf. Bereits hier erkennen die Kühdörfer, wer ortsfremd und wer ortskundig ist. Dazu bedarf es einzig zu sehen, ob die StVO eingehalten wird. Fremde nehmen ordnungsgemäß den Kreisel und fahren brav um den Baum. Alle anderen nutzen die eigentlich verbotene Fahrtrichtung links des Baumes. Sorge vor Bußgeldern muss man nicht haben. Der einzige im Ort wohnende Polizist arbeitet in einer anderen Stadt. Wer der mutmaßlichen Straffreiheit bei diesem Verkehrsdelikt misstraut, muss zurückfahren, denn der einzige weitere Weg aus dem Dorf hinaus führt über das Oberdorf. Und da wohnt der Polizist.
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Form- und Farbgestaltung
Ist Kunst politisch und darf Politik künstlerisch sein? Diesem vielfach verminten Themenfeld wird in Kühdorf ganz praktisch begegnet. Und zwar so: Da die Gemeinde kein Gemeindehaus hat, tagt der sechsköpfige Gemeinderat in der Galerie der Bürgermeisterin und sitzt so inmitten der Formenvielfalt ihrer getöpferten Kunstobjekte. Bekanntlich spiegelt das Innere sich auch im Äußeren. Das ist in Kühdorf nicht anders. Also haben die Bewohner des Ortes ebenso differente Formen wie die Keramikobjekte. Sie sind dünn und dick, klein und groß, schmächtig und mächtig, … Selbstredend herrscht da große Toleranz und Akzeptanz. Nun haben die Kunstobjekte in der Galerie aber auch verschiedene Farbgebungen. Das jedoch sieht im Ort ganz anders aus. Alle Bewohner haben dieselbe Hautfarbe: weiß. Was wäre, wenn nun neben der Formen- auch eine Farbenvielfalt in Kühdorf herrschen würde? In der Galerie jedenfalls sieht diese Vielfalt sehr besonders und aufregend aus und wird gern auch bewundert und gekauft.
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Menschheitstraumverwirklichung
Die Zeit anhalten zu können ist ein alter Menschheitstraum. In Kühdorf wird er wahr. Rücken andernorts die Zeiger der Uhren unerbittlich voran, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde, so ist das in Kühdorf nicht immer der Fall. Denn die einzig vorhandene öffentliche Uhr, weit oben auf dem Kirchturm, läuft nicht einfach immer weiter. Sie tut das nur, wenn der ehrenamtliche Uhraufzieher des Ortes täglich einmal die steilen Kirchturmtreppen empor klettert und hundert Mal die Kurbel dreht. Ist er auswärts, hält die Zeit an. Einen Stellvertreter hat der Herrscher über die Uhr sich nicht suchen wollen. Und so genießen die Kühdörfer seine sanfte Gnade und erleben den Menschheitstraum mehrfach im Jahr.
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Bedarfsermittlung
In der Wissenschaft der Museologie geht es um die Erforschung der Objekte als Bedeutungsträger und das Beziehungsgeflecht, in welchem diese wahrgenommen werden. Die gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Ausgestaltung objektgebundener Kommunikation zwischen Ausstellungsmacher und Besucher. Inwieweit im Kühdorfer Privatmuseum museologische Erkenntnisse in die Gestaltung dieses Kommunikationsangebotes geflossen sind, ist nicht bekannt. Für Museologen aber dürfte sich hier ein weites Feld entfalten. In Anbetracht der Anzahl der Objekte sollte wohl besser eine Hundertschaft Museologen anrücken.
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Goldene Zeiten
Jedes in der DDR groß gewordene Kind kennt das Lied „Kleine weiße Friedenstaube“. Dieses so schön besungene Tier hatte damals eine große Aufgabe: es sollte beim Fliegen den Frieden über das Land bringen. Das Lied hört man kaum mehr. Man hat wohl erkannt, dass die kleinen weißen Tauben damit überfordert waren. Die Kühdorfer Tauben sind weder klein, noch weiß. Eine Aufgabe aber haben auch sie. Sie sollen siegen. In Wettbewerben. Fliegen dürfen sie dafür nicht. Sie müssen spezielle Wettbewerbskriterien erfüllen und so ihren menschlichen Züchter mit Ruhm beschenken. Wenn sich die Kühdorfer Taubenzüchter schon heute die Frage stellen, welche Aufgaben Tauben im nächsten Gesellschaftssystem übernehmen, könnten sie rechtzeitig erfolgreich in die Zukunft investieren. So werden definitiv goldene Zeiten anbrechen.
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Aufklärungsbedarf
Kürzlich wurde bekannt, dass es in Deutschland immer weniger Insekten gibt. Ob das überall der Fall ist, weiß man noch nicht. Für Insektenforscher könnte Kühdorf ein lohnender Ort der Forschung sein. Denn in unterschiedlichen Häusern wird über unterschiedlich große bzw. kleine Populationen an Insekten berichtet. Nahe der neuen großen Pferdezucht ist von Fliegenschwärmen die Rede, die einen abends auffressen würden. 50 Meter weiter, nahe der kleinen Pferdezucht spricht man von dramatischem Insektenschwund, welcher für fehlenden Vogelanflug verantwortlich gemacht wird. Hier könnten Insektenforscher für Aufklärung sorgen. Gab es eine Insektenmassenflucht innerhalb des Ortes? Kann man die Flüchtenden stoppen? Vielleicht mit Transitzentren an der Grenze? Kann man Geflüchtete zurückschicken? Oder den Zuflug nach Bedarf regeln? Für die Aufklärung der tatsächlichen Vorkommnisse sollte jetzt Geld locker gemacht werden! Nicht dass Kühdorf mit fake news verbunden wird.
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Psssst!
In den Städten ziehen Menschen auf der Suche nach Pfandflaschen durch die Straßen. Sie schauen unter Parkbänke, greifen in Mülleimer und hoffen auf versteckte Depots. In Kühdorf fänden diese Menschen ein Pfandflaschen-Eldorado. Am Bauwagen-Jugendklub des Ortes nämlich stapeln sich die begehrten Objekte. Wie regelmäßig sie angehäuft werden, entzieht sich der Kenntnis der meisten Bewohner. Nachgefragt wird da nicht. Schließlich hat auch die Jugend ein Recht auf Geheimnisse. Möglicherweise gibt es im Bauwagen auch andere Aktivitäten. Nicht umsonst steht der Bauwagen am Rande des Ortes. Psssst!
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Skandal
17 Minuten! So lange darf es höchstens dauern, bis der Rettungsdienst in Thüringens dünn besiedelten Gebieten an der Unfallstelle sein muss. Laut Thüringer Rettungsgesetz muss diese Vorgabe in 95 Prozent der Einsätze erfüllt sein. Laut Statistik des Rettungsdienstzweckverbands Ostthüringen wird das aber nicht immer erreicht. Schauen wir nach Kühdorf. Oha! Dort steht ein jederzeit einsatzbereiter Rettungswagen. Und damit lauert hier ein wirklicher Skandal. Dieser Rettungswagen nämlich ist ausschließlich für den Tiertransport gedacht. Die Kühdörfer Tiere können sich deshalb wie medizinisch gut versorgte Städter fühlen. Und das heißt letztlich nichts anderes als Zweiklassenmedizin mitten in Kühdorf! Ein Skandal!
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Zeitenwende
Wer den Kühdörfern zuhört, erfährt: Zu gefährlich sei es, seit es die neue Straße gäbe. Kinder könnten auf dieser Straße nicht mehr spielen. Zu viele Autos würden ohne Rücksicht durch den Ort rasen. Früher, so erzählen alle, seien nur die Kinder auf zusammengebundenen Schlitten die Straße bergab gerast. Ausweichen mussten damals allein die Autofahrer. Meist in den Graben. Zumindest für die Autofahrer sind die gefährlichen Zeiten vorbei. Ist doch gut, wenn es immer mal einen Wechsel in der Gruppe der Begünstigten gibt. Oder etwa nicht?
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Die elf Getreuen
Ja, auch von Kriminalität ist in Kühdorf die Rede, weniger von Mundraub als von Waffendiebstahl und Einbrüchen. Wehrlos aber sind die Kühdörfer nicht. Zu elft üben sie einmal monatlich den Einsatz einer besonders treffsicheren Waffe. Mit dieser können sie Teichräuber vertreiben, Einbrecher treffen und Feuer löschen. Doch noch eine weitere Gefahr hängt wie ein Damoklesschwert über Kühdorf: der Verlust der Eigenständigkeit. Aber auch da helfen die elf Getreuen. Denn gäbe es die Feuerwehr nicht, würde das Dorf definitiv seine Eigenständigkeit verlieren. Und das will niemand im Ort. Sollte also jemand planen, Kühdorf einzugemeinden, sollte er sich nicht nur warm, sondern definitiv auch spritzwassergeschützt anziehen. Wasser marsch!
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