Das Erste, was wir aus der Ferne von Burgk sehen, ist eine Anomalie in der Landschaft. Was erhebt sich da viele Meter über den Feldern? Ist es ein kunstvoll umgestürztes Windrad? Eine gigantische Pfeffermühle? Ein orangefarbenes Raumschiff in Form einer Doppelhelix?

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Je näher wir dem Ortseingang kommen, desto deutlicher wird, dass es sich bei dem hohen Objekt um einen Aussichtsturm handelt. Dieser Turm steht neben einem Parkplatz, der Raum bietet für deutlich mehr als hundert Fahrzeuge und damit fast doppelt so viele, wie Burgk Einwohner hat. Die Größe der Parkflächen wirft die Frage auf: Was ist das Ereignis, das die Menschen an diesen Ort zieht?

Vom Saaleturm führt der Weg vorbei an einem überlebensgroßen Holzritter und einem gut eingezäunten Kinderheim, einigen wenigen Wohnhäusern, einem geschlossenen Restaurant. Es geht bergab, in der Talsohle steht ein zweiter Turm, deutlicher kleiner, eine modellhafte Miniatur des Ersten.

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Gleich hinter der Mauer beginnt der Burgvorhof, denn dort, oben auf dem Felsplateau, liegt das Schloss und das Schloss – das wird schnell klar – ist Grund für Türme und Parkplatzgröße. Das Schloss ist das Ereignis.

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Dabei ist das Schloss zuerst einmal ein Gebäude mit Bergfried, Palas, steinernen Brücken, Wehrgängen, Amtshaus, Kapelle, Türmen, Mauern, Sälen, Treppen, Kellerbuchten. Doch ist so ein Schloss auch ein Gravitationszentrum, das die Geschicke des umliegenden Landes, der Häuser und den Menschen darin lenkt, sie zu sich zieht und beeinflusst, gewollt oder nicht.

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Das Schloss erhebt sich über das Dorf, ist von jeder Stelle aus zu erkennen – nur von einer nicht. Es lockt Ausflügler an. Fast fünfzigtausend kommen im Jahr ins Dorf und verändern damit den Ort. Burgk lässt sich nur mit Schloss denken und verstehen, das soll die These für diesen Text sein.

Einmal war Burgk Residenzort. Einige Jahrhunderte ist es her, dass von hier aus ein Adelsgeschlecht regierte. Zwar lag die Burg abseits der befahrenen Straßen, doch war der Standort günstig, weil durch Fluss und Felsen nur schwer einzunehmen. Damals sollten Burgen – anders als heute in Zeiten des Fremdenverkehrs – Ortsfremde abschrecken. Später verloren Burgen an Bedeutung, die Macht verlagerte sich in die Städte. Die Burg wurde Schloss, das Adelsgeschlecht zog nach Greiz, das Schloss wurde Sommerresidenz. Als Napoleon kam, besaß es keinen strategischen Wert mehr.

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Dann geschah etwas Interessantes: Einer aus dem Adelsgeschlecht begann das Schloss mit neuem Sinn zu versehen. Es sollte eine Art Schrein werden für die Geschichte seiner Ahnen. So entstand eine Art erstes Museum, zu einer Zeit, als dieses Konzept noch nicht allzu geläufig war.

Und Museum ist das Schloss geblieben. Timm Luckhardt, Archivar, führt uns durchs Gebäude und damit dessen Geschichte. Er spricht lautstark, so dass ihn die Umstehenden auch verstehen können. Wir erfahren von den beiden reußischen Linien, von der fahrbaren Orgel im Rittersaal, die gegen einen Webstuhl eingetauscht wurde, vom teuer erkauften Schutzbrief Wallensteins, der im Dreißigjährigen Krieg Burgk vor der Zerstörung bewahrte. Vor einem Ahnengemälde bleibt er stehen und erklärt, dass dieses aus einer bestimmten Epoche stammen muss, weil damals die Adligen rote Absätze trugen. Es ist eine Unmenge an interessantem Wissen, unmöglich, das in angemessener Fülle wiederzugeben.

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Nach der Wende kam er zusammen mit seiner Frau Claudia nach Burgk. Sie wohnten im Schloss, zwei Stockwerke über dem Rittersaal. »Da waren Geräusche, die man nicht einordnen konnte«, erzählt Claudia. »Aber das war nicht unheimlich, sondern schön.« Damals entstand auch das neue Konzept, mit Kunstausstellungen, Veranstaltungen und Konzerten Gäste zusätzlich zum Museumsbetrieb ins Schloss zu holen.

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Zu DDR-Zeiten besuchten bis zu hunderttausend Gäste im Jahr Burgk. Hier gab es ein Ferienlager, Kombinate hatten Verträge mit den Pensionen. In den Saaleblick kamen Arbeiter aus Leipzig. Das ist nun anders. Der Saaleblick hat geschlossen, die Jugendherberge ist weg. Dem Ort fehlen die Reisegruppen.

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Das liegt auch an den Gegebenheiten: Die Busse müssen oben auf dem Parkplatz warten. Für die älteren Besucher ist der Gang hinab aufs Schloss beschwerlich, für die Veranstalter entsteht so ein Leerlauf, in dem nichts verdient wird. Wenn die Busse näher ans Schloss fahren könnten, wäre es möglicherweise einfacher. Zumindest hat der neue Wanderweg geholfen. Mehr Gäste kommen. Aber Luft nach oben ist noch.

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Timm erzählt, dass viele Besucher nach Folterkammern fragen. Die gab es nicht. Aber zumindest einen Hungerturm. Wobei dieser Roter Turm heißt und es nicht ganz gewiss ist, ob er überhaupt als Hungerturm benutzt wurde. Eher nicht. Im Turm hängen hundert rote Emaillehirsche an der Wand. Ein Berliner Künstler hat sie gefertigt. Davor ist ein kleines Holzpodest aufgebaut, ein Schießstand, von dem aus man mit Gummipropfen auf die Hirsche schießen könnte. Könnte weil: Das Gewehr fehlt. »Das Gewehr hat jemand zerstört, ein Gutmensch wohl«, sagt Timm spöttelnd.

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Zu DDR-Zeiten hatte das Schloss dreißig Angestellte. Heute sind es acht. Nur Museum zu sein genügt nicht mehr. Trauungen finden nun statt, Abiturfeste, in der Kapelle Trauerfeiern. Im Dezember ist Weihnachtsmarkt, die obere Etage des Haupthauses kann für Tagungen gemietet werden.

Sabine Schemmrich ist die Museumsdirektorin und damit auch für die Veranstaltungen und Ausstellungen verantwortlich. Sie wägt ihre Worte sorgfältig ab, spricht mit leiser, fester Stimme. Für sie sollen die Räume die Burghistorie erzählen, ist ein Museum dem Gebäude und dessen Geschichten verpflichtet. »Muss ein Museum denn vollgestopft sein?«, fragt sie. Am liebsten macht sie Führungen für Kinder, weil die die überraschendsten Fragen stellten.

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Voller Begeisterung spricht sie davon, wie letztens im Schloss ein Teil der alten Küche freigelegt wurde. Wie sie in Akten aus dem 17. Jahrhundert dreißig Mal las und beim einunddreißigsten Mal etwas über einen Töpfer fand. Sie spricht von Puzzleteilen, die sie im Museum zusammentragen, um das Bild klarer zu machen, um Verknüpfungen freizulegen. Diese Freude am Erforschen der Geschichte teilen auch die anderen, die wir hier treffen. Claudia schwärmt von der Silbermannorgel in der kleinen Kapelle, Timm erzählt, wie es dazu kam, dass im alten Schloss ein Drachenzimmer im asiatischen Stil eingerichtet wurde.

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Im Prinzip erfüllen sie im Schloss zwei Aufgaben: Sie suchen nach Informationen und bereiten diese dann anschaulich auf. Doch wird durch das Hinzufügen von Wissen das Bild nicht zwingend eindeutiger. Sondern komplexer, widersprüchlicher. Und die Frage ist, ob der Besucher bereit ist, das mitzutragen. Ob er sein Bild von einer Burg, vom Mittelalter, der Geschichte hinterfragen will.

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Sabine Schemmrich sagt, dass sich der Besucher verändert habe. Die Unterhaltung spiele eine größere Rolle als früher. Ein Mittelaltermarkt hat andere Motive, das Bild einer Epoche zu zeichnen, als es ein Kunsthistoriker tut. Beides muss sich nicht ausschließen. Aber das stellt auch Fragen: Wie weit muss man dem Besucher entgegenkommen? Wie viel Wissen kann man voraussetzen, wenn es um Lehnswesen und Rittertum, Feudalismus und Privilegien geht? Muss dafür ein Minimalkonsens gefunden werden? Oder kann man ganz selbstbewusst einen mündigen Besucher annehmen?

Das Schloss versucht das. Es organisiert Veranstaltungen und Ausstellungen, die immer wieder mit Fragen der Gegenwart in die konservierten Räume drängen. Die Rolle der Frau wird untersucht, was hieß es, Prinzessin zu sein, was Magd? Oder eine Rüstung zu tragen? Sich Herrschenden zu unterwerfen? Diese Fragestellungen kratzen am gemütlichen Bild, das man von einer Ritterburg haben könnte, am geschönten Blick auf Heimat und Geschichte. Es gab Klageandrohungen, weil sich Besucher von Ausstellungen angegriffen fühlten. »Eine Burg schützt vor der Zeit«, sagt Sabine Schemmrich, »aber man braucht auch Veränderungen.«

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Im Dorf gibt es ein großes Spektrum an Meinungen über das Schloss. Zu den Veranstaltungen, den Kunstausstellungen kommen nicht allzu viele Bewohner. Einige haben wenig Verständnis dafür, finden bestimmte Skulpturen nicht familienfreundlich, wünschen sich mehr Sambaabende als Ausstellungsöffnungen. Das Kinderfest, der Weihnachtsmarkt sind Termine, zu denen die Bewohner aufs Schloss gehen.

Und dann gibt es die Geschichten von den Ahnen, den Urgroßmüttern und Großvätern, die früher im Schloss arbeiteten, kochten, putzten, nähten. Diese Familiengeschichten sind eng mit dem Schloss verbunden. Daraus erwächst auch ein persönlicher Anspruch auf das Schloss, der Forderung, die eigene Geschichte als Geschichte des Schloss zu erzählen. Das kollidiert mit den anderen Erzählungen, mit den Veränderungen natürlich, dem, was in den Ausstellungen stattfindet und was nicht, was gezeigt wird, was in den Archiven bleibt.

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Jeder hat ein eigenes Schloss im Kopf. Das ist über viele Jahre gewachsen. Und dann gibt es das gemauerte Schloss, das Gebäude, das hoch über jedem anderen Dach des Dorfs thront. Das Schloss ist für jeden sichtbar und für jeden anders. Es kann gar nicht anders sein, als dass da Reibung entsteht.

An diesem ersten Dezemberwochenende findet auf dem Schloss der jährliche Weihnachtsmarkt statt. Mindestens drei Blicke kann es darauf geben.

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Der Besucher dreht sich eine Lichterkette in den Bart, er nimmt die Kinder mit, er will Geschenke erstehen für das kommende Fest, möchte Wollsocken oder Mützen kaufen, selbstgeimkerten Honig oder irgendeinen Krimskrams, weil er noch was für die Tante braucht. Und dafür ist ein Weihnachtsmarkt bestens geeignet. Findet dieser zudem im passenden Ambiente statt, das mit kulturellem Flair wie mit Lametta behangen ist, hat der Besucher einen Grund mehr, die Reise dahin zu machen. Er schaut: Singt auf dem Wehrgang ein Chor, ist ausreichend Schmandbrot vorhanden, Knoblauchspeisen, gebrannte Mandeln und Glühwein, vor allem Glühwein, dann ist er glücklich, der Weihnachtsmarktbesucher.

Das Glück der Verkäufer ist Geld. Geld wird gegeben, wenn die Ware – und alles, was auf den Tischen liegt, ist Ware – zufriedenstellt. Dann wird getauscht. Bis es dazu kommt, reist die Verkäuferin einen Tag zuvor an, hofft auf einen guten Platz, baut auf, setzt sich zwei Tage hinter den zugewiesenen Tisch und baut montags, wenn die Besucher schon wieder in ihren warmen Büros sind, ab.

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Manche machen das mit großer Hingabe. Der Likörverkäufer hat sich in Schale geworfen und möchte die Vorbeikommenden beschwipst machen, damit sie reichlich kaufen. Die Mittelaltermarktverkäufer nennen ihre CDs raunend Silberscheiben und ihr Geld Taler. Ein Cateringservice kümmert sich um die kulinarische Basisversorgung. Dazu gehört ein in der historischen Küche über einem historischen Drehspieß gebratenes Kasslerfleisch, das zusammen mit Sauerkraut in ein Fladenbrot getan wird, ein Kasslerdöner, wenn man so will.

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Und schließlich sind da noch die Veranstalter, also das Schloss. Viele Monate im Vorfeld muss geklärt werden, wer kommen kann, wer wo steht, was an kulturellen Attraktionen geplant ist, wie die Ausstellungsobjekte vor dem, vom Glühwein geschwächten Koordinationsvermögen der Besucher geschützt werden können.

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Das alles geschieht zusätzlich zum laufenden Betrieb, bedeutet Tage davor und danach Extraschichten. Und es bedeutet, Fragen zu stellen: Für wen ist der Weihnachtsmarkt gedacht? Welchen Zweck soll er erfüllen?

Vor den Mauern des Schloss findet ein alternativer Weihnachtsmarkt statt. Der besteht aus einem einzigen Stand. In der offenen Garage eines Hauses hat Danny den zusammen mit seiner Freundin und jungen Leuten aus dem Dorf aufgebaut. Neben dem obligatorischen Verzehrbaren (Wurst, Glühwein) gibt es hier hauptsächlich Holzgegenstände. Viele Waffen sind dabei; Schwerter, Lanzen, Schilder. Danny hat die gemacht, er betreibt eine Tischlerei.

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Auch den Ritter, der auf dem Weg vom Parkplatz zum Schloss die Besucher grüßt, hat er geschnitzt. Der erste Ritter faulte, deshalb musste ein zweiter her. Der ist nun aus Eiche, so soll es länger halten. Die beiden Standinhaber sind geschäftstüchtig. Sie locken die letzten Gäste des Abends, die aus dem Schloss müde den Berg zum Ortsausgang empor stampfen, zum Kocher mit dem Glühwein. Auch uns werden Angebote gemacht, zwei Würste gibt es zum Preis von einer.

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Danach laufen wir hinab ins Tal. Nachts stehen wir an der Staumauer. In der Ferne leuchten die gütigen Lichter des Schlosses; lauter Fenster, die wie beleuchtete Schießscharten wirken, nicht unfreundlich. Wenn es diese nicht gäbe, wäre hier reine Dunkelheit. Zumindest anfangs. Denn natürlich ist schwarz nicht schwarz, selbst das tiefste Dunkel wird irgendwann grau, man beginnt zu ahnen und glaubt zu sehen. Aber besser ist es schon, wenn Licht da ist. Und ein Schloss, mitten im Land, auch noch auf einem Hügel, das ist wie ein Leuchtturm.

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Das Wasser ist nicht zu hören; kein Fließen und Rauschen, Plätschern oder Schlagen gegen die Mauer. Nur einmal wird die Stille unterbrochen. Eine Gruppe fränkischer Millennials kommt den Weg herab. Aufgeregt bleiben sie an einer Stelle stehen und leuchten mit der Taschenlampenfunktion ihrer Smartphones ins Gebüsch. Dort haben sie einen Feuersalamander entdeckt, den größten, den sie jemals gesehen haben. Doch er verbirgt sich vor weiteren Blicken. Bald verschwinden sie wieder in der Dunkelheit. Wohin sie gehen, ist unklar, wieso sollten sie zu dieser Zeit überhaupt nach Burgkhammer wollen?

Am nächsten Morgen sind wir mit Ralf verabredet. Ralf ist der stellvertretende Bürgermeister Burgks und zugleich Gemeindearbeiter. Er hält Burgk sauber, mäht Rasen, entfernt Laub. Wenn Winterdienst ist, muss er 4:30 Uhr raus und ist dann bis zum Abend beschäftigt. Mit dem Multicar befährt er die anderen Ortsteile. Für ihn ist die Anstellung bei der Gemeinde wie ein Sechser im Lotto: »Die Arbeit reißt nicht aus, die ist auch am nächsten Tag noch da«, sagt er, »das kann ich mir einteilen, wie ich will.«

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Ralf ist gebürtiger Burgker. Das Schloss hat schon immer zu seinem Leben gehört. Als Kind spielte er in den Prunkzimmern und im Burghof. Er erzählt vom Arbeiterbus, der früher die Dorfbewohner nach Schleiz und Umgebung brachte. Um sechs Uhr in der Früh ging es los, gegen fünf am Abend kam der Bus zurück. Und immer saß das halbe Dorf zusammen, konnte miteinander sprechen, Dinge klären. Danach ging es manchmal in den Gasthof, am Wochenende war Frühschoppen und Skat.

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Heute ist das anders; es gibt die rollende Woche, die Männer sind auf Montage, arbeiten bei Autozulieferen, Holzfabriken, im Straßenbau. Es finden sich nur wenige Gelegenheiten, zu denen mehrere Burgker zusammen sind. Das hat den Ort verändert, den Zusammenhalt.

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Ralf steigt ins Multicar, wir folgen ihm. Es geht aus Burgk heraus, die Straße schlägt einen weiten Bogen, bis wir zu einer unscheinbaren Einfahrt kommen. Über dem Durchfahrt Verboten-Schild weist nur eine dürre Tafel darauf hin, dass dies der einzige Weg zu einem bewohnten Ort ist. Von hier an geht es einige Kilometer durch den Wald. Wir fahren weiter, abwärts diesmal, den Berg hinunter ins Tal, in einen der drei Ortsteile, nach Isabellengrün.

Isabellengrün ist benannt nach einer reußischen Prinzessin. Hermine, die zweite Frau von Wilhelm II., soll der Legende nach, auch nach dem Ende des Kaiserreichs einmal im Jahr hergekommen sein. Lange Zeit stand auf der weiten Lichtung eine Pelztierfarm. Die Sonne scheint durch Knallerbsensträuche. Wer hierher zieht, entscheidet sich gegen die bewohnte Welt. Das Schloss kann man nicht sehen. Es bleibt hinter den Bäumen verschwunden.

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Im größten Anwesen wohnen Manuela und Siegfried. Vor vierzehn Jahren kamen sie nach Isabellengrün. Das Haus – früher eine Jugendherberge – wurde versteigert. Mit dem vielen Land, das dazu gehörte, eigentlich zu teuer für sie. Doch die Besitzerin wollte das Anwesen unbedingt loswerden und so wurde man sich einig.

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Manuela kommt aus Chemnitz und war dort Goldschmiedin, Siegfried hatte eine Heizungsfirma bei Werdau. Beides gaben sie auf, um nach Isabellengrün in den Wald zu ziehen. »Hier ist noch ein Stück Paradies«, sagt Manuela und Siegfried ergänzt, »Anfangs haben die Leute nicht geglaubt, dass wir was daraus machen. Jetzt beneiden uns die Leute ums Haus.« Ralf nickt: »Hut ab, was der Siggi hier geleistet hat.« Siegfried gibt das Lob zurück: »Auf Ralf kann man sich verlassen. Wenn der kommt, da kann man die Uhr danach stellen.«

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Am Hang jenseits des Hauses stehen sechs farbige Bungalows. Im Sommer kommen Gäste aus ganz Deutschland, viele mit eigenen Booten, mit denen sie auf der Saale fahren. »Dieses Jahr war eine beschissene Saison«, sagt Manuela. Achtzig Prozent der Gäste sagten ab, weil der Wasserstand so niedrig war, zu niedrig für die Fahrt. Das lag am trockenen Sommer und an den Bauarbeiten am Staudamm, wofür Wasser abgelassen wurde.

Auch ein Problem: Das Durchfahrt Verboten-Schild an der Zufahrtsstraße nach Isabellengrün. So scheint der Ort und damit ihr Café nur schwer erreichbar. Dazu sind Wanderwege gesperrt. Letztes Jahr kamen Rentner ins Café und konnten nicht weiter. Siegfried fuhr sie dann kurzerhand selbst zurück.

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Wie es weitergehen soll, wissen die beiden nicht. Noch einen solch wasserarmen Sommer würden sie nur schwer verkraften. Sie geben uns Prospekte vom Urlaub in Isabellengrün mit, wir sollen darüber schreiben. Eigentlich haben beide keine Zeit und viel zu tun. Doch dann holen sie gerahmte historische Fotos aus dem Haus, die ein Isabellengrün der letzten hundert Jahre zeigen. Auf einem ist die alte Pelztierfarm zu sehen. Ralf schaut ungläubig darauf: »Das ist doch ein Waschbär«, ruft er, »kann es sein, dass die damals auch Waschbären gezüchtet haben?«

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Es gibt jemanden, der das wissen könnte. Wolfgang, 79 Jahre alt, 1968 wurde er der Förster des Burgker Waldes. Mit seiner Frau wohnt er im Forsthaus, das oberhalb von Manuelas und Siegfrieds Anwesen liegt. Im Garten kehrt Wolfgang nasses Laub zusammen. Er ist eine eindrucksvolle Erscheinung: der grüne Mantel reicht bis zu den Kniekehlen, auf seinem Kopf eine blaue Schirmmütze, ein gleißend weißer Kinnbart, dazu die wachen Augen – er wirkt wie gemalt, wie einem Buch entsprungen, ein alter Förster in seinem Revier.

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Er stammt aus Oberschlesien. Die Familie wurde damals vertrieben und getrennt. Die böse Zeit nennt er das und sagt nicht viel mehr darüber. Mit der Mutter kam er in ein Lager nach Westfalen. Sein Vater war in Kriegsgefangenschaft, gelangte irgendwie nach Burgk, wo er kommissarisch das Forstamt übernahm. Und holte von dort aus Mutter und Wolfgang nach Thüringen. Die Mutter wollte das nicht, »Warum holst du uns zu den Russen?«, fragte sie. Doch Burgk, Isabellengrün, wurde Zuhause. Ende der 60er Jahre löste der Sohn den Vater im Forstdienst ab. »Ich habe mich hier nie einsam gefühlt«, sagt Wolfgang.

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Mit schlesischem Zungenschlag erzählt er von Auerhähnen, Rebhühnern und Silberfüchsen, von der Linde, unter der wir stehen und was für ein Laub die schüttet. Während wir sprechen, kehrt er weiter die Blätter des Herbsts zusammen. »Ich bin körperlich fit, ich hoffe, dass auf den letzten Metern nicht noch etwas passiert.«

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Momentan gehört ein Teil des Forsts einem Privatmann, einem Adligen. Der ist Waldbauer, will also das Holz wirtschaftlich nutzen. Dabei stören Tiere nur; die Hirsche beißen die Rinde ab, Rehe naschen von den Knospen. Das ist nicht gut für den Holzschlag und damit schlecht fürs Geschäft. Also müssen die Tiere weg. Kürzlich erst war wieder eine Treibjagd, vierzig Schützen kamen in den Wald.

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Wolfgang ist so empört über dieses Verhalten, dass er seinen Waffenschein abgab. Aus Protest. Man merkt ihm an, wie sehr ihn das beschäftigt. Und es klingt auch nach einem anderen Jahrhundert; Adlige, die Treibjagden in ihrem privaten Ländereien veranstalten. Ralf meint, dass Wald Volkseigentum sein sollte.

Auf dem Weg zurück halten wir in Burgkhammer. Hammer, weil hier früher eine Gießerei stand. Der Ortsteil liegt unterhalb des Wasserspiegels an der Staumauer. So wie das Schloss Burgk den Ortsteil Burgk überragt, ist es hier diese gewaltige Mauer. Sie schützt und scheint zugleich wie eine Warnung zu sein: Das Wasser kann jederzeit kommen. Es gab Zeiten, zu denen es kritisch war und Burgkhammer die Überflutung drohte.

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Überhaupt schiebt sich hier der Fluss ins Auge des Betrachters. Zu DDR-Zeiten floss oft Schaum aus einer Lederfabrik mit. Die Anwohner bekamen Ausschlag, richtig reden durfte man damals nicht darüber. Zugleich bringt das Wasser auch Gewinne: Früher trieb es die Fabriken an, heute macht es die Gegend malerisch und damit attraktiv für Touristen, die das Geld hierher bringen sollen.

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Ein großer Energieversorger zahlte einige Jahre gutes Geld in die Gemeindekasse für die Nutzung des Stauwassers. Von den Erträgen wurde der Saaleturm gebaut, der am Eingang des Parkplatz die Besucher begrüßt. »Geld, das einmal verbaut ist, kann man uns nicht mehr wegnehmen«, hören wir mehrmals.

Seitdem der Energieversorger seine Gewinne woandershin abführt, hat sich die finanzielle Situation geändert. Dazu die Zuweisungen, die immer weiter gekürzt werden. Burgk hat entschieden, oder besser, ist entschieden wurden, seine Eigenständigkeit aufzugeben. Die Wut ist groß, von »finanziell ausbluten« ist die Rede, einer »unfreiwilligen Eingliederung«. Gern würde man die Geschicke weiterhin selbst in die Hand nehmen.

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Doch der Ort wird mit Schleiz zusammengehen. Im Stadtrat wird dann einer aus Burgk sitzen. Ob das genügt, um die eigenen Interessen angemessen zu vertreten, ist ungewiss. Zumindest ist Ralfs Stelle als Gemeindemitarbeiter bis zur Pension gesichert.

Als wir zurück in Burgk sind, hören wir aus einem Fenster unerwartete Klänge: Nirvana, Metallica und mehrmals »Bohrn in der Nase«, gesungen auf die Melodie des fast gleichnamigen Bruce-Springsteen-Klassikers. Es passt nicht ins Ambiente des Orts und wirkt in seiner Absurdität sehr befreiend so.

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Direkt an den Zwinger grenzt die Schloßterrasse, neben dem momentan geschlossenen Saaleblick eines der beiden großen Gasthäuser Burgks. Der Innenraum ist geräumig, draußen zieht sich eine Terrasse parallel zum Wanderweg entlang. Von hier aus hat es über das Wasser hinweg einen weiten Blick ins Land. Wenn es warm ist, legen Radfahrergruppen oft Pausen ein.

Die Schloßterrasse wird von Andreas betrieben. Vor über dreißig Jahren kam seine Mutter mit ihm aus Zwickau nach Burgk und begann das Geschäft. Damals war Andreas Teenager. Der Wechsel von einer Hunderttausend-Einwohner-Stadt in ein 80-Seelen-Ort fiel ihm leicht. »Es gab keine Richtlinien«, sagt er »Als Jugendlicher kommt man einfacher ins Dorfleben rein.«

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Andreas spricht vom guten Leben, dass er das Schlechte von sich fernhalten möchte, er ein schönes Betriebsklima haben will, spricht von der Schloßterrasse als seiner Wohlfühloase. Er wirkt wie jemand, der dafür keine Kompromisse mehr eingehen möchte. Dem Stammtisch, der immer zu einer bestimmten Zeit kam, hat er eine frühere Zeit abgetrotzt.

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Von Anfang an hat er den Restaurantbetrieb miterlebt. Erst war er im Service, nahm dann eine Auszeit und ging später in die Küche, weil, wie er sagt, er keine Menschen mehr sehen konnte. Das Kochen brachte er sich selbst bei.

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Heute leitet er den Betrieb, drei Festangestellte, dazu ein Kreis von fünfzehn Bediensteten, die jederzeit einspringen können. Wie überall in der Gastwirtschaft ist es schwer, Leute zu finden; die Arbeitszeiten, die Anforderungen, die die unterschiedlichen Saisons stellen. Gerade hat Andreas eine 65-Stunden-Woche hinter sich.

Er wohnt über der Schloßterrasse. Zum Feierabend stellt er die Klingel ab, sonst würde er immer gestört werden. Während wir sitzen und reden, kommen wieder immer Gäste vorbei, grüßen ihn. Wie ein Taubenschlag, sagt Andreas und wirkt nicht unglücklich darüber. Einer ruft »Warst du gestern mit dabei? Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Ein anderer fragt: »Kommst du noch mit ein Bier trinken?« Andreas zögert, überlegt. »Eigentlich wollte ich heute mal früh ins Bett.« Am Ende des Gesprächs wird er der Einladung folgen.

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Von Burgk allein könnte er nicht leben. »Im Januar, Februar ist hier der Hund begraben«, sagt er. Der überwiegende Teil seiner Gäste sind Tagestouristen. Neben der Schlossterrasse hat Andreas noch einen Partyservice. Er spricht von regionaler Vernetzung, von Veranstaltungen, die er organisiert oder plant, nennt Namen von Personen, die ihn dabei unterstützen. »Stellt euch vor, ihr seid auf einem Schiff und ich bin der Kapitän. Und ohne Kapitän geht das Schiff unter.« Letztens hat er ein Glühweintrinken organisiert und die Einnahmen einem Kinderhospiz in Jena gespendet.
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Auf dem Weg hinauf, etwa auf Höhe des Holzritters, steht ein Kinderheim. Das gibt es seit fast hundert Jahren und hat eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Wer will, der kann Zeitzeugenberichte aus der DDR finden, von Wasserbunker und Weidenruten ist dort die Rede. Anfang der 1990er Jahre war Uwe Böhnhardt, Kernmitglied der rechtsextremen NSU, für einige Wochen im Heim.

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Heute sind bis zu achtzehn Kinder im Haus untergebracht, vornehmlich Jugendliche, die Probleme in der Schule haben. Hier werden sie pädagogisch betreut, soll ihnen ein Übergang in ein geordnetes Leben gelingen. Einige der Jugendlichen kommen aus Berlin. Nach 2015 wohnten eine Zeit lang unbegleitete minderjährige Geflüchtete hier. Das Gebäude ist saniert, gerade erst wurden im Erdgeschoss die Räume neu eingerichtet.

Als wir im Dorf danach fragen, hören wir unterschiedliche Geschichten. Manche erzählen davon, dass man früher eher froh war, wenn die Jugendlichen nicht im Ort unterwegs waren, weil diese sich ausfällig verhielten. Andere berichten, dass es immer selbstverständlich war, zusammen zu spielen.

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Gleichwohl scheint es nicht viele Berührungspunkte zwischen Dorf und Kinderheim zu geben, das immerhin ein reichliches Fünftel der Dorfbewohner stellt. Wenn, dann gibt es Verbindungen zum Schloss. Wie alle Bewohner Burgks dürfen die Jugendlichen kostenlos aufs Schloss und wie wir erfahren, wird das Angebot häufig wahrgenommen.

Die Dämmerung kommt früh. Im Vergleich zu gestern, dem Weihnachtsmarkttag, sind es heute deutlich weniger Lichter. Auf dem Schlosshof hängt Martins Gurkentaxi fest. Der grüne Anhänger kommt die Steigung nicht hinauf. Das Gras, das zwischen Pflastersteinen wächst, ist feucht, die Räder haben darauf keinen Grip. Andreas, der seit fast vierzig Jahren als Hausmeister im Schloss arbeitet, holt eine Schaufel und schüttet vom Streugutkasten kleine Kieselsteinchen zu den Vorderrädern.

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Immer wieder legt er nach. Zentimeter um Zentimeter arbeitet sich das schwere Gefährt unter lautem Motorheulen nach oben. Nach vielen Minuten ist es geschafft, das Gurkentaxi kann Burgk verlassen. Andreas stürzt sich auf seine Schaufel. »Was für ein Wahnsinn«, sagt er, »der Anhänger war viel zu schwer für die Maschine. Das ging voll auf die Kupplung.«

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Vielleicht ist die Annahme, dass Burgk nur mit Schloss zu verstehen ist, zu kurz gegriffen. Vielleicht ist Burgk ein Ort, der aus mehreren Teilen besteht: Da sind die drei Ortsteile, zwischen denen eine nicht unerhebliche geografische Distanz besteht. Dazu mit Schloss und Kinderheim zwei Gefüge, die erst einmal jeder für sich funktionieren müssen und einer eigenen Logik folgen. An manchen Stellen sind sie nach außen geöffnet, dann ergeben sich Überschneidungen, mal mehr, mal weniger.

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Als wir am Abend über die schmale Landstraße Richtung Schleiz zurückfahren, taucht vor uns plötzlich ein Hindernis auf. Am Seitengraben steht das Gurkentaxi. Wir halten an, kurbeln das Fenster runter. Der Fahrer eilt herbei. »Euch kenne ich doch«, ruft er. Er zeigt in die Dunkelheit hinter uns, dorthin, wo auf dem Felsplateau Burgk liegt und sich in der nächtlichen Saale das Schloss mit seinen Lichtern spiegeln muss, und sagt dann: »Die Kupplung ist kaputt.«