Wir brauchen einen Passierschein. Wir brauchen einen Stempel, am besten einen blauen. Wir brauchen die Genehmigung, an diesem Ort zu sein, wir müssen sie vier Wochen im Voraus beantragt haben. Wir brauchen einen Grenzsoldaten, der uns den Schlagbaum öffnet und Zugang zum Sperrgebiet gewährt. Es ist 1961 oder 1977 oder Anfang 1989 und wir fahren nach Asbach-Sickenberg.

Asbach und Sickenberg sind hessische Dörfer. Dann kommt der Krieg und danach führt eine Eisenbahnstrecke – die Whiskey-Wodka-Linie – auf der amerikanischen Seite an einer Stelle durch die russische Besatzungszone. Und deshalb gibt es ein Abkommen und im Tausch gegen zwei Thüringer Dörfer werden fünf hessische Dörfer der russischen Seite zugeschlagen.

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Und so gehören Asbach und Sickenberg fortan zur bald entstehenden DDR. Nun liegt Asbach nicht nur in einer 5-km-Sperrzone, sondern in einem 500 Meter breiten Schutzstreifen direkt an der Grenze. Nun verlieren Bauern ihren Boden, nun sind Arbeitsplätze in einem anderen Staat, werden Familien voneinander getrennt. Und dann sind da zwei Länder und in den nächsten Jahren sehen die Asbacher vor den Fenstern Wachtürme und Stacheldraht, Soldaten mit Waffen sehen sie und Hubschrauber, die am Himmel kreisen und sie sehen den Kontrollstreifen, brachliegende Erde zwischen den Zäunen; der Wald gerodet, die Grasnarbe herausgerissen, Todland.

Siebzig Jahre später ist diese Zeit Asbach-Sickenberg kaum noch anzusehen. Der Weg führt beim Lindenberg nach Sickenberg, wo sich neun Ansiedlungen auf der sanft ansteigenden Hügellandschaft so verteilen, als würden sie nur widerstrebend beisammen stehen wollen. Auf den nebelfeuchten Wiesen liegen vollreif die Zwetschgen.

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Zwei Kilometer weiter schmiegt sich Asbach ins Tal des Alten Hainsbaches: 87 Einwohner, ein Straßendorf mit Gefälle, giebelständige Sichtfachwerkbauten, Haken- und Dreiseithöfe, selbst die vier leerstehenden Häuser gut erhalten. Der Herbst kündigt sich an, die Sonne wirft buntes Licht auf die Hänge. Auf einem Acker zieht eine Kommune Kartoffeln, Rinder klauben Äpfel von Bäumen, in der Milchschäferei wird nach Demeter-Richtlinien gekäst.

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Und doch fällt auf, dass sich parallel zum Ort eine Art Riss durch die Landschaft zieht, wie eine unnatürliche Furche, die die Natur nur widerstrebend zurückerobert und bewachsen hat. Das ist der ehemalige Todesstreifen. Hier teilte sich ein Land. An den Rändern sind Reste der Steinplattenwege zu sehen, auf denen früher die Soldatenautos Patrouille fuhren.

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Mitten in diesen Todesstreifen hinein haben die Asbacher einen Fußballplatz gebaut. Stolz sagen sie, das Hainsbachstadion sei der einzige Sportplatz in Deutschland, der auf der Fläche der beiden ehemaligen deutschen Staaten liege. Die Arbeit war mühsam, der Boden sumpfig. Heute steht hier ein Flutlicht und trainiert der Freizeit-Sportverein, die Werbewand eines regionalen Energieversorgers sorgt für Einnahmen und im neuen Vereinshaus schauen sie bei der WM gemeinsam die Spiele.

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Der Platz ist nicht nur Platz, sondern auch Symbol, wie Pflaster auf einer Wunde, bewusst, vielleicht trotzig angelegt, um diesen Ort, auf den die Asbacher eine Epoche lang keinen Zugriff hatten, mit neuer Bedeutung zu versehen.

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Und je länger wir in Asbach-Sickenberg sind, desto mehr scheint es uns, als ob es eine Menge Wunden gibt und ebensolche Pflaster und diese nur durch die Zeiten zu verstehen sind: die nach der Grenzziehung, vierzig Jahre eingeschlossen auf engstem Raum. Die Zeit nach der Wende, dem Glück, das mit der Freiheit verbunden war und den großen Verwerfungen, die sich tief in Biografien geschlagen haben. Und schließlich gibt es die Gegenwart, die noch einmal dreißig Jahre später spielt, mit anderen Protagonisten, weitestgehend unberührt von Grenze und Wende.

Die Grenzzeit

Von früher hören wir viel; traurige, dramatische, wütende, leise Geschichten. Absurde, wie die des Potemkinschen Dorfs: Die leeren, von den Menschen verlassenen Häuser Asbachs mussten alle paar Jahre von den Bewohnern neu angestrichen werden, um so den Beobachtern auf der westlichen Seite ein schönes Bild des Dorfes und damit der DDR zu präsentieren.

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Da waren die Aktionen »Kornblume« und »Ungeziefer«, die erzwungene Aussiedlung von Dorfbewohnern, der Name, weil ein Landessekretär der SED in diesem Zusammenhang von »Beseitigung des Ungeziefers« sprach. Oder die Sache mit der Beerdigung. Der Friedhof bei Asbach liegt direkt neben dem Grenzzaun. Bei einer Trauerfeier sammelten sich auf der hessischen Seite die Trauergäste und wohnten der Andacht schweigend bei, ohne selbst auf den Friedhof gelangen zu können. Am Ende warfen sie Kränze über die Grenze, hinein in den Todesstreifen. In der Nacht brachten Soldaten die Kränze heimlich zu den Asbachern, die sie zum Grab trugen.

So viele Geschichten. Nicht mehr als drei Leute durften in Asbach zusammenstehen, ansonsten galt das als Versammlung. Und diese waren verboten. Fürs Betreten ihres Ortes mussten die Einheimischen den Ausweis vorzeigen. Wer sich verliebt hatte, durfte seine Liebe nicht ins Dorf mitnehmen. Deshalb verlobten sich die Asbacher-Sickenberger schneller als anderswo. Drei Familien flohen über die Grenze und bauten in Sichtweite des Dorfs auf einer Anhöhe – der Struht – Höfe. Sie stehen heute noch. Oder die Geschichte der Bäuerin, die ihre Habseligkeiten auf einem Erntewagen unter Heu versteckte, in die Flur ging und niemals wiederkehrte.

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Wichtige Informationen kamen über den Milchfahrer, denn der war in vielen Dörfern unterwegs und wusste deshalb mehr. Bauern verloren das Zutrittsrecht für ihre Grundstücke jenseits der Grenze. Das Geld, das sie für die Pacht erhielten, wurde auf Genex-Konten eingezahlt, eine von der Regierung installierten Möglichkeit zum Devisenaustausch. Abends durften keine Leitern mehr an Bäumen und Mauern stehen, denn die konnten zum unerlaubten Grenzübergang genutzt werden.

Das Museum

Was ist davon geblieben? Es gibt die These, dass die DDR erst nach der DDR entstanden ist. Durch Ostalgiesendungen, oscarprämierte Kinofilme, durch Vereinfachen, Verklären, Dämonisieren ergibt sich ein bestimmtes Bild dieser vierzig Jahre. Oder besser: Es entstehen viele scheinbar eindeutige Bilder, die erst uneindeutig werden, wenn man sie nebeneinanderstellt. Und die Frage ist: Welche Bilder werden überhaupt gesehen? Und welche weggelassen?

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Etwa einen Kilometer von Sickenberg entfernt befindet sich das Grenzmuseum Schifflersgrund. Initiiert wurde die Gedenkstelle von einem hessischen Unternehmer. Auf welche Weise wird Geschichte dort erzählt? Zuallererst und überdeutlich im Zentrum steht der Armeeapparat: bullige Panzer, Hubschrauber aus verschiedenen Epochen, Armeefahrzeuge, LKWs mit wuchtigen Radargeräten, Wachtürme, NATO-Stacheldrahtzäune. Es ist, als betrete man eine Kaserne, in der alles Denken dem Militär unterworfen ist. Es ist ein Bild dieser DDR. Ihre Gewalt.
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Im Grenzmuseum ist der Todesstreifen noch erhalten; ein tiefer, von der Natur befreiter und einsehbarer Graben, eingezäunt von mehreren Seiten. Am Hang steckt im Waldboden ein Holzkreuz. Hier wurde 1982 Heinz-Josef Große auf der Flucht erschossen. In den Ausstellungsräumen stehen hinter Gittern NVA-Soldatenpuppen, daneben Schäferhundattrappen, Schautafeln informieren über Dienstränge. Auf dem Freigelände sind etliche Besucher unterwegs. Vor dem Eingang parkt ein Reisebus aus Niedersachsen. Oft kommen Schulklassen ins Museum und werden den Grenzzaun entlang geführt, lernen so über diesen Teil der Geschichte der DDR.

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Als wir Ursel, die ehemalige Bürgermeisterin Asbachs, fragen, wie das für sie ist, erzählt sie, dass es sie stört, dass vieles darauf reduziert wird. Das Militär und damit der Staat als Machtorgan war immer präsent. So wie viele darunter litten, waren viele Nutznießer dieser Macht. Aber es war auch Alltag, musste irgendwie Alltag sein. Sie erzählt, dass man die westlichen Hubschrauber Kaffeeholer nannte, weil die zu bestimmten Zeiten kamen. Dann wusste man auf dem Feld, dass jetzt Zeit für eine Kaffeepause war. Im Museum selbst arbeitet niemand aus Asbach-Sickenberg. Als Erinnerung kann der interessierte Besucher den Grenzzaun als Souvenir mitnehmen, vier Euro kostet der Streckmetallzaun auf Holzleiste.

Die ostdeutsche Nachwendezeit

Das Asbach-Sickenberg von gestern lag am Rande eines Staats. Heute liegt es in der Mitte Deutschlands. Vor allem aber im Osten. Zu DDR-Zeiten wurden im nahen und historisch armen Eichsfeld zahlreiche Betriebe angesiedelt. Ein kleiner Ort wie Leinefelde wuchs so innerhalb weniger Jahre von 2500 auf fast 17000 Einwohner. Nach dem Mauerfall brach diese kurzzeitige Industrialisierung über Nacht weg. Hessen war gleich nebenan, dort standen die Fabriken, Firmen und Geschäfte. Und dort blieben sie weitestgehend auch.

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Wer aus Hessen kam, für den ging nach 89 das Bekannte im Wesentlichen weiter. Wer in Asbach-Sickenberg wohnte, der musste nach der Euphorie verstehen lernen, in welcher Welt er nun war. Musste mit Enttäuschungen umgehen, damit, dass Befähigungen und Erfolge anders zählten und das Leben neu ausgerichtet werden musste. Obwohl nur wenige Kilometer auseinander, gab es sehr unterschiedliche Voraussetzungen, um im geeinten Deutschland zu bestehen.

Werner durfte erst nicht studieren, dann doch, dann kam die Wende und sein Abschluss hatte keinen Wert mehr. Es waren schwere Jahre für ihn. Es ging um grundlegende Fragen nach Essen und Schuhen für die Kinder. Er musste begreifen, was die neue Gesellschaft von ihm wollte, was er ihr geben konnte. Er machte sich selbstständig, gründete eine Firma, es war Mitte der 1990er Jahre. Bis es einigermaßen lief, war das erste Jahrzehnt der neuen Zeit fast schon vergangen.

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Heute leitet er einen Betrieb, der fünfzig Mitarbeiter beschäftigt. 27 Patente für Gefahrstoffrückhaltungssysteme sind angemeldet. Die Anlagen verhindern, dass nach dem Löschen giftige Stoffe ins Abwasser gelangen. Für große Firmen bauen sie und das in aller Welt, Neukaledonien zum Beispiel, das tausend Kilometer östlich von Australien liegt, zu Frankreich und damit zur EU gehört, weshalb dort hiesige Normen gelten und zu deren Einhaltung eben Anlagen notwendig sind, die in Asbach-Sickenberg entworfen wurden.

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Da ist ein großer Stolz, mit den Bedingungen einer ostdeutschen Biografie im neuen Deutschland etwas geschaffen zu haben, das weit über die Grenzen des Dorfes, über Thüringen hinaus wirkt. Werner sagt: »Ich war überall auf der Welt. Und ich weiß jetzt, dass das hier das ultimativst schönste Fleckchen ist. Hier bin ich glücklich, hier komme ich zur Ruhe.« Im Sportverein engagiert er sich, ist einer von denen, die den Sportplatzbau auf dem ehemaligen Grenzstreifen angeschoben haben.

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So könnten einige der Asbacher Lebensläufe sinnbildlich für ostdeutsche Werdegänge stehen. Es gibt die, die nach der Wende reibungslos in neue Anstellungen fanden. Es gibt die, denen das nicht gelang. Welche, die viel einsetzen mussten. Die, denen ein Weltbild brach. Andere verklären die alte Epoche. Und jene, denen vom sozialistischen System tiefe Wunden zugefügt wurden, die damals kämpften und heute immer noch und diesen Kampf nach außen tragen.

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Und einen weiteren Zungenschlag über Ostdeutschland hören wir an dieser Stelle. Die Rhetorik ist nüchtern und methodisch, fast kühl. Es geht um die Erklärung der Ereignisse in Chemnitz, Heidenau, Dresden. Die Ostdeutschen haben schon einmal eine Diktatur erlebt, hören wir so, weshalb sie sensibler auf staatliche Repressionen reagierten. In diesem Zusammenhang fallen Worte wie Diktatur, Staatsfunk, Orwell. Von einem Bürgerkrieg ist die Rede, der bald kommen und von den Ostdeutschen ausgehen werde. Die Regierung könne sich nicht auf Dauer dem Willen des Volks entgegenstellen. Und wenn die Infrastruktur zusammenfalle, der Staat sein Gewaltmonopol verliere und es keinen Strom mehr gebe, dann sei es gut, auf dem Land zu leben und sich selbst versorgen zu können. Diese Worte sind keine Mehrheitsmeinung, sogar weit davon entfernt, aber sie werden mit großer Entschiedenheit und Überzeugung vorgetragen, auch das ist ein Bild dieser Gegenwart, dreißig Jahre später weiterhin das Gefühl von Oppression, dem Leben in einem Unrechtsstaat.

Sickenberg

Sprung zurück nach Sickenberg: 1950 gehen die beiden Dörfer zusammen, Sickenberg stellt den Antrag, Asbach stimmt zu. Die Gemeinde Asbach/Sickenberg entsteht. 1992 wird aus dem Schräg- ein Bindestrich. Sickenberg ist nun Asbachs kleiner Bruder. Das schlägt sich auch in der Zahl der Mitglieder im Gemeinderat nieder. Die Asbacher kommen nicht so oft dahin, im Prinzip sind es zwei Orte, verbunden durch Bindestrich und eine Straße.

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Wie zufällig in die Landschaft getupft wirken die neun Anwesen hier. Die Straße, die die Höfe eher beiläufig zu verbinden scheint, hat keinen Namen. Wer jemanden erreichen will, schreibt Ort und Hausnummer auf den Briefumschlag. Deshalb wird die Post nicht selten falsch geliefert, da jeder Sickenberger Hof einen Doppelgänger in Asbach hat, dort, wo die Straße einen Namen trägt. Am Anger steht seit Sommer ein kleiner Holzpavillon. Auch der Löschteich daneben ist neu gemacht. Auf einem Stromkasten verkündet ein Plakat schnelles Internet. Am Hang drängt sich ein kleiner Geräteschuppen zu den Apfelbäumen.

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Der ist für den einen Sickenberger Feuerwehrmann. Das ist Arndt. Arndt ist gelernter Zimmermann und arbeitet als Bühnenbildner im Theater in Kassel. Er war auf den Weltmeeren unterwegs und wohnt jetzt wieder hier. Oft ziehen die Leute aus dem Dorf der Arbeit hinterher, bei Arndt war das anders.

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»Dabei ist man doch blöde, auf dem Land zu bauen«, sagt er, »Höfe sind zwar nicht teuer, aber es hängt ordentlich was dran. Da bekommst du kein Geld raus, steckst aber viel rein.« Arndt führt uns über sein Grundstück. Überall liegt Holz. Was fürs Brennen gedacht ist, spaltet er gleich im Wald. Es heißt, Holz mache vier Mal warm: beim Schlagen, Sammeln, Spalten und Verfeuern.

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Die große Göpelscheune fällt auf. In Städten wie München oder Hamburg könnten auf der Fläche viele Familien wohnen. Hier geht es darum, irgendwie die Substanz zu erhalten. »Eigentlich wäre es sinnvoller, alles abzureißen und einmal von Grund auf neu zu bauen. So bist du ständig am Ausbessern.« Er zeigt uns die alte Häckselmaschine und erzählt, wie früher das Getreide geklopft und die Scheune bis unters Dach mit Stroh und Heu vollgestopft wurde. Heute trocknet hier die Wäsche.

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In Sickenberg sind Arndt und seine Partnerin die jüngsten, die einzigen unter fünfzig. Zu DDR-Zeiten sollten sich die Grenzdörfer auf natürliche Weise überflüssig machen. Also aussterben. Zuzug war untersagt. Das spürt Sickenberg heute noch. Über mehr junge Familien würden sich alle freuen. Im Nachbarort haben sie versucht, einen Waldorfkindergarten einzurichten. Vom Land wird das nicht unterstützt, die Initiative ist privat, ein Verein muss sich um alles selbst kümmern. Das ist nicht einfach.

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Zum Abschied sagt Arndt: »Auf dem Land lebt, wer Bock darauf hat, der immer was arbeiten will.« Vor dem Hof steht ein Weidenkorb mit frischen Äpfeln. Fallobst. Arndt hat es aufgelesen. Wer vorbei kommt, kann für zwei Euro so viel mitnehmen, wie er will.

Im Landgasthof

Zwei Häuser weiter von Arndt (und damit schon am anderen Ende von Sickenberg) lebt Kristina. Vor einigen Jahren kam sie aus Göttingen ins Tal. Einen eigenen Hof wollte sie. Es dauerte, bis das klappte. Heute wohnt sie hier und betreibt einen Landgasthof. An den Wochenenden kommen neben den Tagesausflüglern die Wanderer, kehren am Nachmittag zu Kaffee und Kuchen bei ihr ein.

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Kristina hat sich für einen sogenannten Premiumwanderweg eingesetzt. Dafür muss den Leuten, die das Gütesiegel vergeben, der Weg schmackhaft gemacht werden; also immer wieder ins Dorf holen, die Strecke ablaufen, zum Essen einladen, so lange, bis irgendwann die Entscheidung zugunsten eines gut ausgeschilderten und in vielen Reiseführern ausgewiesenen Premiumwanderwegs fällt, der viele Gäste nach Sickenberg lockt. Nun ist ihr Hof Startpunkt der Route P16.

Für das Jahr über hat sie einen Veranstaltungskalender zusammengestellt: Brotbacken im holzbefeuerten Lehmofen, Sensen lernen, Filzwolle mit Walnussschalen färben. Einer der Höhepunkte ist ein historisches Sieben-Gänge-Menü, das wie vor zweihundert Jahren gekocht wird; Forellen aus Asbach gibt es dann, Selleriekartoffelbrei, Sauerbraten mit Zwetschgen. Ein regionales Gericht ist Spanisch Fricco – Rind, Schwein, Kartoffeln, Schmand und Zwiebeln, die im Wasserbad drei Stunden geschmort werden. Früher war das beliebt, weil so die Frauen sonntags nicht am Herd stehen mussten, sondern während des Schmorens in die Kirche gehen konnten.

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Die Besucher vom Hof Sickenberg kommen aus der Umgebung und von weiter her. Sie finden einen Ort vor, an dem die Vorstellung vom Landleben idealisiert ist und zugleich der Wahrheit entspricht. Die Zwetschgen, mit denen die Soße fürs Fleisch gemacht wird, pflücken Kristina und ihr Lebensgefährte von den Bäumen im Garten. Die Walnüsse sammeln sie selbst. Fotogen sitzt die Hauskatze im Gegenlicht. Morgens hängt der Nebel geheimnisvoll über den Beeten und die Schafe blöken vor den Körben mit den Augustäpfeln. Es riecht nach Wiese, die Kinder können im Baumhaus spielen. All das ist Dorfleben und die Fotos, die wir davon machen, geben das wieder.

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Aber es sind eben Bilder inmitten vieler Bilder. Die Gäste haben nicht gesehen, wie lange das Pflücken dauerte und wie viel Zeit das Entkernen der Zwetschgen kostete und sie haben auch nicht die drei Jahre gesehen, in denen Kristina das Haus unter maximalen persönlichen Einsatz wiederherstellte. Als sie kam, gab es keine Heizung und die Toilette war ein Plumpsklo auf dem Hof und bis der Boden fruchtbar war, dauerte es. Die Gäste sehen nicht den Montag auf solch einem Anwesen und das frühe Aufstehen und im Prinzip sollen sie das auch nicht sehen. Sie sind für eines von mehreren Bildern hier, das von der Idylle.

Gang durchs Dorf

Siegfried, den viele Siggi nennen, ist erster Beigeordneter und damit momentan erste Vertretung des Dorfs. Sein Vater bekleidete zu DDR-Zeiten das Amt des Bürgermeisters, seine Schwiegermutter war ebenfalls Bürgermeisterin. Sein gesamtes Leben hat er im Ort verbracht. Allein während des Maschinenbau-Studiums war er in Leipzig, lebte in einem Wohnblock. »Dort habe ich mich eingesperrt gefühlt«, sagt er, »in Asbach aber hatte ich Luft, trotz der Grenze.«

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Siggi arbeitet in Witzenhausen bei einem Autozulieferer. Früher hatte er die rollende Woche, achtzehn Tage am Stück schuften, Schichtdienst. Die Kinder waren oft die ersten und die letzten im Kindergarten. Er ist einer der Initiatoren für den Sportplatz, dazu Vorsitzender des Sportvereins und in der Feuerwehr. Als eine Asbacher Familie durch einen Brand ihr Haus verlor, nahm er sie bei sich auf – seit vielen Monaten wohnen sie schon bei ihm.

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Während wir im Ort sind, ist er oft und lange an unserer Seite. Er versorgt uns mit Informationen, geht zu Häusern, öffnet Türen, lädt ein, organisiert an der Burgruine ein Picknick. Und er hat Geschichten parat: Vom Pullerschnaps, der hier bei einer Geburt getrunken wird, während man bei der Beerdigung das Fell des Verstorbenen versäuft. Dazu brachten die aus dem Dorf den weniger betuchten Familien Essen vorbei, Butter, Schmand, Brot. Im Winter wurde jedes Wochenende reihum in den Höfen ein Schwein geschlachtet und das Essbare auf die Nachbarn verteilt, so dass jeder was davon hatte. Siggi ist damals selbst als kleiner Junge von Haus zu Haus gegangen. »Gut gefrühstückt spürt man einen Tag, gut geschlachtet ein Jahr, gut geheiratet ein Leben«, ist einer seiner Sprüche.

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Dem Förster hat er gesagt, dass der beim Altenstein den schönen Blick aufs Dorf freischneiden soll, damit Asbach wieder so wie auf der Postkarte aussieht. Und als er in der Armee war und für einen freien Tag nach Asbach kam, fotografierte er das Dorfleben. Die Bilder sind heute im Gemeindehaus gerahmt, Schwarzweißfotografien von Straßen, Menschen, Festumzügen.

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Einen möglichen Zusammenschluss mit Uder sieht er kritisch. Dem Dorf geht es gut, er fürchtet, dass die eigenen Einlagen nicht mehr Asbach-Sickenberg zugutekämen. Und wenn es doch zu einem Zusammenschluss kommen sollte, brauche der Ort seine Freiheiten, zum Beispiel das Recht, das Geld vom Holzschlag für die eigene Gemeinde zu verwenden. Sein Wunsch ist: »Die Leute, die hier sind, sollen entscheiden, was hier getan wird.«

Siggi macht uns mit Brigitte bekannt. Ihr Mann war nach der Wende neun Jahre Bürgermeister. Als wir sie auf ihrem Grundstück treffen, will ihr Enkelsohn gerade zu einem Fußballspiel aufbrechen. Er ist Panzergrenadier in der Bundeswehr. 2020 geht es für ihn nach Kundus. »Die kriegen mich schon nicht«, sagte er und »Ich kann doch meine Leute nicht im Stich lassen.« Dann setzt er sich ins Auto und fährt los.

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Brigitte führt uns durch Asbach. Sie zeigt uns Haus Nummer 1, das seltsamerweise mitten im Ort liegt, so dass die Zählung der Hausnummern von dort aus beginnt. Wir bestaunen das Gebäude, das der Maler mit Fresken bemalt hat. Vor dem ehemaligen, mittlerweile prächtig hergerichteten Rittergut stehen vier Männer zusammen und reden über die Welt. Als wir sie ansprechen, werden sie schweigsam und als wir um ein Foto bitten, läuft einer schnell weg. Dafür fährt ein Moped vor. Darauf sitzen Brigittes Enkelin und deren Freundin. Sie fahren die Kirchenblättchen aus. In viele der Höfe düsen sie so, hupen, klingeln, übergeben die Hefte, die über kirchliche Veranstaltungen unterrichten.

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Durch die hessische Herkunft ist Asbach-Sickenberg anders als das Eichsfeld evangelisch. Alle zwei Wochen findet ein Gottesdienst statt. Auch Katholiken nehmen daran teil, weil die nächste Kirche ohne Auto schwer zu erreichen ist. Asbach-Sickenberg gehört zum hessischen Kirchgebiet. Das war schon in DDR-Zeiten so. Deshalb konnte in den 1970er Jahren das Kirchengebäude mit D-Mark renoviert werden. Westdevisen waren knapp, vom sozialistischen Staat wurde ausländisches Kapital gern gesehen. Heute übernimmt eine Familie aus dem Dorf für jeweils einen Monat den Kirchendienst; Samstag die Glocke läuten, Blumen gießen, saubermachen.

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Während wir auf den Kirchenbänken sitzen und reden, beginnt es zu regnen. Tropfen prasseln aufs Dach. Brigitte erzählt vom Leben in der DDR. Sie erzählt vom Winken. Ihr Mann war Invalide und durfte deshalb nach Westdeutschland reisen. Dort besuchte er die Großmutter, die nach dem Krieg in Hessen geblieben war. Den Enkel hatte die Großmutter nie gesehen. Als sie einmal zum Grenzzaun gingen und von westlicher Seite winkten, winkte der Enkel – ein Kind noch – zurück. Soldaten sahen das. Brigitte wurde nach Heiligenstadt einbestellt und dort einem Verhör unterzogen. Man forderte Buße, verlangte das Eingestehen eines Fehlers. 60 Mark Strafgeld kostete das Winken.

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Als Brigitte auf die Wende zu sprechen kommt, hebt sich ihre Stimme vor Freude. »Was Schöneres als die Grenzöffnung konnte uns nicht passieren«, sagt sie. Das erleben wir mehrmals; bei manchen Gesprächen werden die Augen nass, so ein Glücksgefühl war das. Im Januar 1990 wurde die Grenze hier offiziell freigegeben. Das Dorf war voller Menschen. Später rissen die Asbacher den Zaun aus dem Boden und hegten damit ihre Grundstücke ein. So ist der ehemalige Grenzzaun heute noch überall im Dorfbild präsent.

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So wie fast alle Gespräche, die wir führen, auf die Sperrzonenzeit kommen, kommen sie auch auf den Streit. Durch den Ort geht ein Riss, wenn man so will eine neue Grenze. Einer der Ausgangspunkte war die Abwahl der Bürgermeisterin. Es gab Beschuldigungen auf allen Seiten. Auf einer privaten Webseite wurden eine Zeit lang Anschuldigungen ausgesprochen, das Dorf las angespannt mit. Der Großteil des Orts steht gegen einen kleinen Teil. Auch räumlich lassen sich diese Grenzen im Ort ziehen.

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Von außen ist die Angelegenheit kaum zu beurteilen. Jedes Wort landet bei diesem Konflikt, jeder hat einen Standpunkt dazu. Einige versuchen, sich neutral zu verhalten, was nur schwer möglich ist, wenn sich die Kontrahenten täglich auf der Straße begegnen, wenn man dann entscheiden muss: Grüßt man? Senkt man den Blick? Stellt man den anderen zur Rede? Ignoriert man die andere? Die Sickenberger, besonders die Asbacher belastet das schwer, das ist nicht zu übersehen. Eine kurzfristige Lösung scheint nicht in Sicht. »Hier ist jetzt alles schief« ist ein Satz, der einmal in diesem Zusammenhang fällt und das in einem Ort, wo in vielen Haustüren die Schlüssel von außen stecken.

Wandervögel

Ein Haus am Rande von Asbach. Auf dem Hof liegen hohe Stapel mit Holzplatten. Im Dachstuhl wird gehämmert, so laut, dass wir mehrmals schreien müssen, bis wir gehört werden. Annika und Alex kommen herunter. Sie laden uns in ihren Garten ein, dort, wo die weite Flur schon beginnt. Annika bringt Milch von einer Biomarke. Alex stellt selbstgemachten Honig auf den Tisch. Imkern ist sein Hobby. Das Label hat er selbst entworfen, »Echter Asbacher Honig« steht darauf und darunter »Asbach, wo Milch und Honig fließen.«

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Die beiden sind jung, Ende Zwanzig. Als Freunde ein Haus ausbauten, halfen sie. Dabei lernten sie die Gegend kennen. Und lieben, wie sie sagen. Sie beschlossen, hierher zu ziehen. In den umliegenden Dörfern suchten sie nach einem geeigneten Grundstück. Mieteten sich erst in einer Wohnung in Asbach ein und als nebenan ein Haus zum Verkauf stand, griffen sie zu. Seither sind sie im Dorf.

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Neben uns gackern Hühner. Annika und Alex halten sich alte Rassen, robust sollen sie sein, was aushalten können. Das Deutsche Reichshuhn fällt auf, schwarz-braun-gesäumtes Federkleid, eine prägnante Maserung. Zu Zeiten Bismarcks gedacht als Nationalhuhn, gezüchtet aus asiatischen Landhuhnschlägen und Mittelmeerrassen. Im Verschlag sind die Tiere sicher vor Greifvögeln. Manchmal gehen die Hühner zum Schlafen in die Bäume. Dort kann sie zwar der Fuchs nicht erreichen, dafür der Marder.

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Annika jobbt in der Asbacher Milchschäferei. Aus den Krainer Steinschafen fließt Milch, daraus wird Bioschafskäse mit Mandelaroma gemacht. Mit anderen jungen Paaren aus dem Dorf bewirtschaften sie einen Gemeinschaftsacker, auf dem sie Tomaten, Mais, Zucchini und Kartoffeln anbauen. Auch wenn es klingt, als habe der Zufall Annika und Alex hierher geführt, haben sie eine bewusste Entscheidung getroffen – gegen die Stadt, für das Land. Autark wollen sie leben, mit Tieren zusammen, die Jahreszeiten wollen sie spüren, in der Natur sein.

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Diese Nähe zur Natur ist ihnen nicht fremd. Beide sind Wandervögel. Bei einem Singwettbewerb bei Burg Ludwigstein haben sie sich auch kennengelernt. Die Wandervögel sind eine Jugendbewegung, die sich Anfang des letzten Jahrhunderts gegründet hat. Es gibt verschiedene, auch nach Geschlechtern getrennte Bünde, die wandern, zelten, Lieder singen und eine eigene Definition von Heimat finden wollen, sich in einer über hundertjährigen Tradition sehen und diese fortführen wollen. Das Eichsfeld kannten Annika und Alex schon von ihren Touren. Dass sie einmal hier leben würden, hätten sie nicht gedacht.

Annika studiert in Göttingen Forstwirtschaft. Der Männer/Frauenanteil sei etwa gleich, sagt sie, wobei später mehr Männer in den Wald gingen. Wir sprechen über die Jagd. Es ist wichtig, dabei verantwortungsvoll zu handeln, sagt Annika. Wenn der Jäger die Leitbache schießt, sei das Rudel ohne Führung. Dadurch entstünden viele Wildschäden. Ein ungeschriebenes Gesetz unter den Jägern sei, dass man bestimmte Hirsche nicht töte, die stattlichen 1A-Hirsche. Ab Ende September wird nicht mehr geschossen, damit zur großen Drückjagd im November die Tiere wieder im Forst sind. Wenn die Tiere zur Strecke gebracht sind, müssen die Jäger das Fleisch kontrollieren. Proben werden entnommen und ins Labor geschickt. Erst wenn das Okay kommt, kann das Tier zerlegt und verarbeitet werden.

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Als wir sie fragen, ob sie von den alten Geschichten aus der Asbacher DDR-Zeit wissen, nicken sie. Natürlich, das gehört dazu. Sie selbst haben die DDR nicht erlebt. »Fühlt Ihr Euch wie Asbacher?«, fragen wir. Annika antwortet: »Das würde ich schon sagen.« Sie lacht und schaut zu Siggi, der mit uns im Garten sitzt. »Darf ich das überhaupt schon so sagen?« Er nickt.

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Ähnlich wie Arndt sind sie aus freien Stücken und zu ihren eigenen Bedingungen hier. Sie wollen kein großes Land bestellen oder bestimmte, durch die Dorfgeschichte festgeschriebene Pflichten erfüllen. Ökologisches Denken ist ihnen wichtig, Nähe zur Natur, Traditionen, gepaart mit einer Sehnsucht nach Ferne.

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Bald ist Annika mit ihrem Studium fertig. Dann wollen sie für ein Jahr nach Russland gehen und gemeinsam das Land erwandern. Von Asbach aus zur Autobahn loslaufen, den Daumen raushalten und dann in den Osten. Annika spricht gut russisch. Vor einiger Zeit war sie in der Mongolei. Das Land hat sie geprägt, sagt sie, ihren Worten ist anzumerken, wie sehr es sie wieder dahin zieht.

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Siggi rät, vor dem Wodka ein Stück Speck zu verspeisen. Das Fett öffne den Darm und der Alkohol gelange nicht so schnell ins Blut und deshalb werde man nicht so schnell betrunken. Wir reden über die Pferde, die Annika damals in der Mongolei gekauft hat und einem positiven Menschenbild, das man für eine solche Reise brauche. »Man kommt als jemand anderes zurück, als man gefahren ist«, sagt Annika. Und zurück wollen sie beide, wieder in Asbach-Sickenberg leben, dem Dorf an der Grenze.