Die Woche, bevor wir nach Thüringenhausen in den Kyffhäuserkreis fahren, zieht sich dort ein Mann an. Er streift ein dünnes T-Shirt mit langen Ärmeln über seinen Oberkörper – dünn muss es sein, weil er stark schwitzen wird und lange Ärmel muss es haben, weil auf seiner Haut sonst das Stroh kratzen würde. Darüber zieht er eine Latzhose, denn nur die rutscht nicht. Und rutschen darf nichts, sonst hätte er ein Problem.

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Der Mann hat nicht getrunken und das, obwohl Kirmse ist. Allein mit klarem Kopf ist zu schaffen, was ihm bevorsteht. Den Samstag über haben die Männer des Dorfs zusammengesessen und Erbsenstroh zu dicken Wülsten gerollt. Glück soll es bringen, für Fruchtbarkeit steht es. Nun hängen sie ihm die getrockneten Halme an. Jede Stelle seines Körpers bedecken sie damit, bis er vollkommen unter dem Stroh verschwunden ist.

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Es ist sonntags um neun. Der Mann, er ist jetzt ein Erbsbär.

Und als Erbsbär, als wunderliche, nicht mehr menschliche Gestalt, als Fantasiewesen, wird er an die Kette gelegt und durchs Dorf geführt. Er klingelt an den Türen und wenn die Männer ihm etwas geben, tanzt er mit ihren Frauen. Die Kapelle spielt dazu. Jedes Haus im Ort besucht er, mit jeder Frau tanzt er, unter dem Stroh schwitzt er und sieht kaum etwas und kann nicht weiter, aber er macht weiter, denn einen Erbsbär, der aufgibt, den darf es nicht geben.

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Als wir das Wochenende darauf durch dasselbe Dorf wie der Erbsbär gehen, können wir noch seine Spuren entdecken; Strohreste beim Hang bei der Gänsewiese, Stroh in der Bushaltestelle unterhalb des Fleischers, sogar den Kopf des Erbsbären finden wir. Und wie er laufen wir durch den Ort, durch Thüringenhausen, die heimliche Hauptstadt des Landes sagen sie hier und genau so sollen wir das schreiben.

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Die Hauptstadt. Wie sieht die aus? Wir wollen beim ersten Haus anfangen. Und da wird es schon kompliziert: Wo beginnt Thüringenhausen überhaupt? Es gibt mehrere Anfänge und damit mehrere Enden. Eine Straße verläuft sich ins Feld, eine krümmt sich an der Kirche, eine reißt am alten Spielplatz ab, ein Ortseingangsschild ist dort, wo der Jäger wohnt, eines, wo die Helbe unter den tiefhängenden Ästen der Weiden geheimnisvoll verschwindet.

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Wir entscheiden uns, welches das erste Haus sein soll. Auf dem Giebel lesen wir: estab. 2015. Das heißt: Dieses Haus wurde 2015 errichtet. Kann das sein? Wir klingeln. Kurz darauf sitzen wir bei Elke und Frank im Wintergarten. Es ist ein neu gemachter, großzügig gestalteter Raum. Auf dem Tisch steht ein mit bunten Ringen verzierter Aschenbecher, wie eine freundliche Vase scheint er, weniger dafür gedacht, erkaltete Zigarettenreste zu verwahren.

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Elke erzählt. Mit achtzehn übernahm sie den Dorfkrug. Das ist, besser war, die Kneipe im Ort. Damals kehrten die Männer, bevor sie aufs Feld gingen, auf zwei Bierchen zum Frühstück ein. Am Feierabend kamen sie noch mal vorbei. Jeder hatte seinen festen Platz; der Stiefvater am Ofen, die jungen Bengels durften nicht irgendwo sitzen. Frauen kamen so gut wie nie in den Krug.

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1999 schloss der Krug. Im Dach des langgezogenen Gebäudes nisteten sich Falken ein, auf den Treppenstufen vor dem Eingang liegen die halbverdauten Mäuse. Für private Feiern wird er noch genutzt, die letzte Kirmse fand im Festsaal statt. Neuerdings hat der Gehilfe des Bürgermeisters hier eine Wohnung, einmal im Monat treffen sich die Rentner des Orts bei Kaffee, Kuchen und Schnaps. Aber so wie früher ist es nicht mehr; kein Ort, an dem man sich regelmäßig begegnen könnte.

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Frank war lange unter Tage. Salzabbau. Tausend Meter ging es in die Tiefe. Nach der Wende wurde das Bergwerk von Kali und Salz übernommen und bald darauf dicht gemacht. Seither arbeitet er nicht mehr unten, sondern ganz oben. Hochfassadenbau. Er steht auf Gerüsten viele hundert Meter über dem Boden. Wenn der Wind besonders stark ist, muss die Höhenrettung kommen. »Bungeespringen brauche ich nicht«, sagt er, »das habe ich zweimal die Woche.«

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Frank und Elke arbeiten viel. Wenn sie nach Hause kommen, wollen sie die Tür schließen und den Kopf frei kriegen. Als sie jung waren, haben sie oft einen Wochenendplan gemacht: Wo ist Disko, wo Kirmse, in welche Kneipe wollen wir und packten dann den Trabbi voll. »Der Zusammenhalt war größer«, sagen sie. Als wir fragen, woran das liegt, bringen sie ein Beispiel. Wenn damals Kirmse war, übernachteten die Leute bei ihnen im Haus. Das schweißte zusammen. Heute hat jeder ein Auto und fährt abends nach Hause. Da sitzt man eben am Morgen nicht mehr zusammen, da geht etwas verloren.

dann fällt dieser Satz: »Unser Schicksalskonto ist jetzt hoffentlich voll.« Es ist ein harter Satz. Einer, aus dem viel Unglück spricht, aber auch Hoffnung auf Zukunft. Es geht um eine Reihe von Schicksalsschlägen, die kurz aufeinanderfolgten. Einer davon: Ein Feuer zerstörte ihr Zuhause.

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Am Tag des Brandes war Frank auf Montage in Frankfurt. Als ihn der Anruf erreichte, setzte er sich sofort ins Auto und fuhr los. Und wie er ankam, war das Haus schon abgebrannt. Die Hitze hatte die Farbe der Ziegel verändert. Durchs Löschwasser bildeten sich in den feuchten Dielen giftiger Schimmelpilz. So ein Geruch bleibt ein Leben lang.

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Was macht man, wenn das Zuhause nicht mehr ist? Darauf gibt es keine Antwort. Außer vielleicht – wieder anfangen. Drei Jahre hat es gedauert, bis das Meiste wieder hergerichtet war. Jetzt sitzen wir im neuen Wintergarten, vor uns der bunte Aschenbecher. Er füllt sich mit Asche.

Wir verlassen das erste Haus, überqueren schräg die Straße, passieren eine Burg, die aus baurechtlichen Gründen als Garage ausgewiesen ist und gehen zu Wilfried. Er führt die Feuerwehr. Und er ist Fleischer, er macht Hausschlachtungen.

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Wir treffen uns in einem kleinen Häuschen, das auf seinem Grundstück steht, einer Art Hütte, der anzusehen ist, dass dort oft zusammengesessen, geredet und getrunken wird. Auf Regalen stehen kleine Zierkrüge, an der Wand hängen farbige Lampenketten und an der großen Fensterfront Wimpel mit der Bayernfahne, an der Stirnseite des Tischs ist ein Fernsehbildschirm angebracht.

Zuerst reden wir übers Töten. Es ist seltsam, damit ein Gespräch zu beginnen. Wie Wilfried davon erzählt, ist es das natürlichste auf der Welt. Es ist Teil seines Lebens, Teil seines Berufs. Er fährt auf Höfe in ganz Thüringen und schlachtet dort das große Vieh: Rinder, Schafe, Schweine. Er erzählt von der Stromzange, die dabei ist, den Schussapparat als Haupttötungswerkzeug abzulösen, von grünen, gelben, roten Patronen, die unterschiedlich stark sind und so für die unterschiedlichen Arten verwendet werden. »Die Tiere spüren das, die wissen Bescheid, wenn die mich sehen«, sagt er, »aber wenn du Mitleid mit den Tieren bekommst, musst du aufhören, diesen Beruf zu machen.«

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Sein Handwerk lernte Wilfried bei Andreas, der die Straße runter wohnt. Damals hatten die meisten Höfe im Ort noch Tiere. Es wurde viel geschlachtet, das Fleisch einer Schlachtung reichte für ein Jahr. Heute muss Wilfried weit fahren. Die Arbeit ist schlecht bezahlt. Wilfried ist Fleischer, er macht aus dem Tier auch die Wurst. Einen ganzen Tag dauert eine Hausschlachtung so. »Nur töten ist langweilig«, sagt er, »Ist das Schwein tot, liegt es in der Ecke. Und was dann? Deshalb mache ich auch mehr.«

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Irgendwann will er nicht mehr übers Schlachten sprechen. Über die Feuerwehr schon eher. Es ist schwer, die Leute dafür zusammenzubekommen. Die Woche über sind viele Männer auf Montage und nicht im Dorf. Am Wochenende wollen sie bei der Familie sein. Wir fragen nach dem Feuer bei Elke und Frank. Die eigene Mannschaft kann einen solchen Großbrand nicht löschen. Die Kameraden – sofern sie überhaupt im Ort und nicht auf Montage sind – können das Gebäude sichern, die Straße sperren, die Leitstelle informieren. Löschen können sie nicht. Die Wehr aus Sondershausen braucht fünfundzwanzig Minuten bis ins Dorf, schneller ist das nicht möglich.

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Während wir reden, stoßen einige Thüringerhäuser dazu. Sie setzen sich hin, Bierflaschen werden gereicht und geöffnet. Wilfrieds Tochter ist dabei, auch ihr Freund. Er war der Erbsbär in diesem Jahr. Sonst wird das unter den Männern des Dorfs ausgelost. Die meisten haben das Strohkostüm schon getragen, nicht wenige mehrmals. Der Freund meldete sich freiwillig. Wer einmal Erbsbär war, der gehört dazu.

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Nach einer Stunde wird Wilfried unruhig. Das viele Reden behagt ihm nicht. Er muss etwas tun. Tanja und Christian, dem jungen Paar, das vor ein paar Jahren nach Thüringenhausen kam, hat er Küken für den großen Hof versprochen. Zusammen gehen wir zum Stall. Vier Küken sind ausgemacht, Wilfried verschenkt alle sieben. Einen Sack Futter gibt er gratis dazu. »Ein Dorf muss Viecher haben«, sagt er und wirkt zufrieden, dass im Ort bei einem Haus mehr wieder Tiere sind. Freundlich, aber konsequent scheucht er uns danach raus. Er muss weiter, die Wurst macht sich nicht von allein.

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Weil das gerade gut passt, begleiten wir Tanja und Christian. Sie ziehen ihre kleine Tochter in einem Wägelchen hinter sich her. Es ist ein idyllisches Bild: Eine junge Familie in einem stillen Dorf, die Tochter mit den niedlichen Küken, das Paar Hand in Hand. Von einem Anfang des Orts gelangen wir so zum nächsten. Dort steht Tanja und Christians Haus. Haus trifft es nur unzureichend. Das Grundstück ist gewaltig; ein prächtig renoviertes Landhaus gehört dazu, ein großer Hof, Scheunen, eine weitläufige Pferdekoppel.

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Bereitwillig führt uns Christian übers Anwesen. Man merkt ihm den Stolz auf das Erreichte an. Der Bau war ein gewagtes Unternehmen: Das Grundstück war mehrere Jahrzehnte nicht bewohnt, das Gemäuer entsprechend marode. Im Prinzip wäre es einfacher gewesen, alles abzureißen und neu zu bauen. Aber sie wollten was Individuelles haben, etwas, das Geschichte atmet. So zogen sie für zwei Jahre zurück zu den Eltern und steckten die gesparte Miete in die Restaurierung. Später sagten ihnen Freunde und Familie: »Wir hätten nie geglaubt, dass ihr das schafft.«

Aber sie schafften das. Christian hat den Bau ausführlich mit Fotos dokumentiert. Er zeigt sie uns auf dem Laptop; viele Ordner mit noch mehr Bildern, die eine Baustelle zeigen, die nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir jetzt sehen. Ihr Haus sieht wie einem Landlust-Magazin entsprungen aus: viele natürliche Materialen, Holz, Ton, antike Möbel, tausend Details. Geschützt hinter Glas hängen an der Wand Titelseiten von Zeitschriften, die sie bei der Restaurierung fanden: Der freie Bauer, Das Volk, Neues Deutschland, Das sozialistische Dorf, Exemplare, die zum Teil noch aus den 1950er-Jahren stammen.

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Ob ihm das viele Bauen Spaß gemacht hat? Christian muss nicht überlegen. Er arbeitet im Büro und ist froh, durch das Handwerk den Kopf freizubekommen. Als nächstes ist der Hof dran, eine Poolecke soll dort entstehen. Danach kommen die Scheunen und wenn die fertig sind, geht es mit dem Haus von vorne los.

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Tanja arbeitet als KFZ-Mechanikerin. Sie sagt, dass sie sich dort als Frau durchbeißen musste. Es gibt viele klischeebeladene Blicke, Schubladen, in die man sie steckt. »Aber da musst du durch«, sagt sie. Sie liebt Pferde. Als es damals mit Christian ernst wurde, sagte sie ihm: »Mich kriegst du nur zusammen mit den Tieren.« Auf ihrem T-Shirt steht FÄRT, auf dem ihrer Tochter Happy Girl.

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Hinter ihrer Koppel, wo die vier Ponys stehen, liegt der alte Spielplatz. Tanja, Christian und andere junge Eltern des Orts wollen ihn wieder herrichten. An einem Sonntag mit einem Eimer Farbe dorthin, die Erwachsenen streichen, die Kinder spielen, dann sieht er wieder top aus.

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Das Beispiel zeigt, was Thüringenhausen durch den Verlust der Eigenständigkeit verloren gehen könnte. So ist es heute: Ein paar aus dem Ort wollen unentgeltlich etwas für den Ort machen. Der Bürgermeister gibt dafür auf dem kurzen Dienstweg Geld für die Farbe, stellt einen Kasten Bier hin, dazu noch ein paar Bratwürste.

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Würde die Verantwortung woanders liegen, hieße das wohl: Antrag in Ebeleben einreichen. Einholen mehrerer Angebote für Farbe, Wurst, Bier. Dann entscheidet jemand in der Ferne, ob die Renovierung des Spielplatzes in Thüringenhausen wichtig ist. Am Ende bliebe der Platz so, wie er war.

Als Christian uns in die ehemalige Nähstube führt, die heute als Wohnzimmer mit Spielecke fungiert, sehen wir auf dem Tisch einen Kopf. Er gehört zum Erbsbären. Der Kopf ist aus Pappmaché gefertigt, darüber das Stroh. Anstelle von Augen sind die schwarzen Gläser einer Sonnenbrille angebracht. Ein Pferdegeschirr hängt dran und die untere Schicht ist aus Latex und mit Schaumstoff ausgekleidet, damit es beim Tragen nicht kratzt.

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Ein Jahr haben Christian und andere aus dem Dorf daran gewerkelt. Trafen sich abends auf ein Bier und bastelten. Sie wollten etwas Neues probieren, es auch dem Erbsbärkandidaten einfacher machen. Jetzt ist es ein komfortabler Kopf, abnehmbar, ähnlich wie bei einer menschengroßen Micky Maus im Disneyland.

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Beim Gang durchs Dorf zogen sie Kostüme an, verkleideten sich als Känguru und Tiger. Ein alter Brauch, den sie mitmachten und auf ihre Weise weiterführten. Nicht allen im Dorf gefiel das.

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Bevor wir das Haus verlassen, ruft Christian bei Micha an. Der wohnt mit seiner Familie bei der Kirche, zu Fuß vielleicht zwei Minuten entfernt. Ob wir kommen könnten, fragt Christian für uns. Micha willigt ein.

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Kurz darauf sitzen wir bei Tee zusammen. Mit Micha, der immer einen Spruch auf Lager hat und Sandra, die ihre leuchtend roten Haare zu einem Dutt aufgesteckt hat. Sie arbeitet als Malerin. (Micha: »Irgendwie muss der Schornstein ja rauchen«) und wie Tanja muss sie sich in einem Beruf durchsetzen, in dem Frauen die Ausnahme sind. Und wie Tanja spricht sie selbstbewusst, wie jemand, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt. (Micha: »Ich hab die Hosen an. Aber sie legt sie raus.«)

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Tanja erzählt, dass die Auftragsbücher der Firma bis Ende nächstes Jahr voll sind. Sie haben mehr zu tun als sie schaffen können. Nachwuchs ist rar, viele Männer arbeiten heutzutage lieber im Büro, die Handwerksberufe sind nicht so attraktiv.

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Micha ist Fahrer. Geflügeltransporte. Früher war er die Woche über weg. Jetzt hat er die Routen gewechselt. (Micha: »Die Frau so lang allein lassen, das geht nicht.«) Dennoch müssen sie sich absprechen. Die Tochter geht im Nachbarort in die Kita mit dem schönen Namen Helbegänschen, sie müssen das Hinbringen und Abholen koordinieren. Das ist nicht einfach.

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Als Sandra achtzehn war, haben sie das Haus gekauft. Über tausend Ecken stießen sie darauf. »Macht es uns was aus, ins Dorf zu ziehen? haben wir uns gefragt«, sagt Sandra. (»Hat es nicht«, sagt Micha.) Also zogen sie nach Thüringenhausen. (Micha: »Ich habe im Dreck gespielt, unsere Kleine soll im Dreck spielen. Die Stadtkinder denken doch, die Kühe sind lila.«) Zehn Jahre haben sie am Haus gebaut. Und so richtig fertig wird es wahrscheinlich niemals werden.

Sandra sitzt im Gemeinderat. Über die Windräder wird diskutiert, ob sie dem Dorf Geld bringen könnten. Sandra ist dagegen. Sie hofft, dass Thüringenhausen eigenständig bleibt. »Wenn uns das verloren geht, dann macht hier niemand mehr was. Jetzt können wir noch Wünsche äußern. Aber dann nicht mehr.« Letztens war auch eine Versammlung im Krug, das ganze Dorf war eingeladen. (Micha: »Die, die nicht kamen, die hatten hinterher die größte Gusche.«)

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Nachdem wir Fotos gemacht haben, sagen sie beide noch, dass sie ein gutes Gefühl für Thüringenhausen haben. »Immer mehr junge Leute wie wir ziehen aufs Land, das ist richtig ein Trend.« Dann gehen sie zurück in ihr Haus. Bald wird drinnen die Treppe versetzt, sie wollen umbauen.

Ein guter Moment, um durchzuatmen. Was haben wir gesehen, was gehört? Von den etwas über hundert Einwohnern sind wir etwa einem Fünftel begegnet. Bisher hat sich das Bild von Thüringenhausen hauptsächlich aus Gesprächen zusammengesetzt; Schilderungen, Meinungsäußerungen, Geschichten, Biografien. Geschehen ist nicht viel. Selbst der Erbsbär, dieses wundersame Wesen, bleibt eine Erzählung.

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Wir laufen durch den Ort, schauen diesmal, hören. Da sind zuerst die Hunde. Sie schlagen an. Hinter vielen Zäunen bellt es, Schnauzen schieben sich unter Hoftoren hindurch, manche Tiere springen auf Mauern, kläffen von da. Es sind keine freundlichen Geräusche.

Ab und zu röhrt ein Motorrad vorbei, die Strecken im Kyffhäuserkreis sind bergig und voller Kurven. Es fühlt sich kühl an, das muss an der Senke liegen, in der sich Thüringenhausen befindet. Wir laufen zum Tuchberg, an dessen Hang früher Tücher zum Trocknen ausgelegt wurden. Drei Waidsteine entdecken wir, die von der ehemaligen Waidmühle stammen. Damit verdiente das Dorf einmal Geld, solange, bis das Indigo das Geschäft mit der Farbe ruinierte.

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Die Helbe führt wenig Wasser. Wegen des trockenen Sommers, sagen die einen, wegen den Tiefbohrungen bei den Schweinemastanlagen, andere. Sie erzählen auch, dass im Zweiten Weltkrieg ein Flugzeug in den Bach stürzte. Die Einheimischen begruben den toten Piloten im Ort und mussten feststellen, dass das Grab am nächsten Tag leer war. Die Amerikaner hatten ihren Mann heimlich ausgebuddelt und weggebracht.

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Uns scheint, als sind da mehrere Stimmen im Ort. Es gibt die, die heute mit gestern vergleichen, die, die sehen, was sein könnte und nicht ist, die auf die leerstehenden Häuser schauen und nicht auf die bewohnten. Und es gibt die, die etwas neu gebaut haben, die noch nicht so tief in der Geschichte stecken, die zuversichtlich in die Zukunft blicken, ihre Zukunft, die des Orts.

Im anbrechenden Abend sehen wir Lichter. Am Geländer einer Terrasse hängen Leuchtschlangen. Der Grill feuert, hier wird gebraten. Ohne weitere Umstände werden wir eingeladen. Es gibt Bratwürste, die aus Wilfrieds Produktion stammen; einmal klassisch, einmal mit Bärlauch, ein scharfer, ein satter Geschmack. Wir stehen zusammen, essen und reden, als uns Bier angeboten wird. »Nein, danke«, sage ich, »für mich kein Bier, ich will einen klaren Kopf behalten.«

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Der Spruch ist nicht unbedingt originell, er ist ähnlichen Situationen geschuldet. Mir ist es wahnsinnig unangenehm, ein Bier abzulehnen. Ich weiß ja, dass es als freundliche Geste gedacht ist, als eine Einladung, um das Fremdsein zu überbrücken.

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Und mit nichts geht das so unkompliziert wie mit einer Flasche Bier. »Willst du ein Wasser?«, hat etwas Läppisches, man setzt nichts dafür ein, man muss nur Wasser aus der Leitung holen. Wein anzubieten macht Umstände, es erfordert ein sauberes Glas. Kaffee oder Tee hat man so gut wie nie zufällig gerade gekocht und beim Warmmachvorgang vergeht Zeit, zu viel für ein schnelles Beieinanderstehen.

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Ein Bier aber, das hat man gekauft, keine erhebliche Summe, aber zumindest etwas Geld gegeben, das man nun großzügig dem Gast entgegenbringt. Ein Bier, das zischt beim Entfernen des Kronkorken, das hat etwas Sinnliches und zugleich sehr Praktisches; kein Glas wird benötigt, erwärmt werden muss es nicht, Bier ist einfach da, eine Flasche, man kann sie gegen die andere schlagen, sich so bedanken, mit einem Wasserglas oder einer Kaffeetasse würde man so etwas nie machen.

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Doch mir schmeckt Bier nicht. Zwei kleine Schlucke genügen und alles in mir sträubt sich gegen diesen Geschmack. Für mich ist das kein Geschmack, sondern eine Arbeit gegen das Schöne, so wie bei Nikotin. Um mich daran zu gewöhnen, müsste ich – so wie ich es bei Rotwein getan habe – zwanzig, dreißig, fünfzig Flaschen davon trinken. Damit würde ich meinem Körper klarmachen: Das gehört jetzt zu deinem Leben. Meine Geschmacksknospen würden kapitulieren, ich würde Bier ertragen können und letztlich würde es dazugehören, wäre eben eine simple soziale Geste, so wie Händeschütteln.

All das sage ich nicht, als ich gefragt werde, ob ich ein Bier möchte. Sondern: »Nein, danke, für mich kein Bier, ich will einen klaren Kopf behalten.«
Einer, der mit uns steht, schaut mich perplex an.
»Einen klaren Kopf…«, sagt er, »das habe ich ja noch nie gehört.«

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Er lacht nicht, dafür ist er viel zu fassungslos. Bier und Bratwurst, Bier und Zusammenstehen, Bier und Reden, Bier und Freunde, das gehört zusammen. Mehrmals wiederholt er ungläubig meine Antwort. Schließlich lacht er doch. Das ist doch die Pointe. Von einem Bier einen unklaren Kopf zu bekommen, das geht einfach nicht.
»Einen klaren Kopf behalten… das muss ich den anderen erzählen«, sagt er und legt freundschaftlich den Arm um meine Schulter, »dieser Spruch wird dir ewig nachhängen.«

Dasist anzunehmen. Nicht nur hier, sondern in so gut wie allen Orten, die wir besucht haben. Bier ist immer da. Immer hat jemand ein Bier zur Hand, immer bietet jemand ein Bier an, ein Kasten Bier ist Zahlungsmittel, Bier gibt es vormittags, mittags, wenn man zusammensteht, etwas feiert, redet, an der Tür klingelt, im Garten ist, vor der Arbeit, nach der Arbeit, zwischendurch, immer Bier, gerade für die Männer. Wem Bier angeboten wird, der muss nichts befürchten. Bier lockert die Zungen, sichert den Nachbarschaftsfrieden, Bier wird reichlich bei der Feuerwehr getrunken, während der Kirmse saßen die Kirmesburschen biertrunken auf dem Dach des Dorfkrugs, wussten nicht, wie sie hoch kamen und wie wieder runter, betrunken hat einer vor einigen Jahrzehnten ein Haus angezündet. Bier gehört dazu.

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Natürlich hören wir in fast allen Orten auch die Geschichten von denen, denen eine Flasche nicht genügt. Auf Häuser wird gezeigt, da hat sich einer totgesoffen, wird uns gesagt, da säuft sich gerad einer tot. Früher, vor dem Feld, sind die Männer auf zwei Bier in die Kneipe und nach dem Feld auch. »Die Männer haben das Geld in die Kneipe getragen«, heißt es und die Frauen mussten damit klarkommen.

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Und wir hören, wie schwer es ist, sich dem zu entziehen. Jemand hatte Alkoholkranke in der Familie, die Situation so unerträglich, dass ein Umzug stattfand. Das dient als mahnendes Vorbild. Seitdem trinkt sie keinen Tropfen Alkohol. Bei den Feiern im Ort wird ihr trotzdem welcher angeboten, man will sie einladen. Sie macht das wütend, »jeder kennt meine Geschichte«, sagt sie, sie empfindet es despektierlich, dass man ihr nicht zuhört und vergisst, weil eine Flasche eben eine Geste der Freundlichkeit ist, eine, die der Vergemeinschaftung dient und damit auch Vereinnahmung ist.

In der Mitte des Dorfs, auf der Veranda vor ihrem Haus sitzt Renate. Nein, eigentlich sitzt sie nicht nur. Sie thront über ihrem Königreich. An ihrer Seite, ebenfalls auf weißen Plastikstühlen, Andreas, ihr Mann und Karola, die nette Nachbarin von gegenüber. Hier knetschen sie über das Dorf, die Menschen, die hier wohnen, die Welt im Kleinen und Großen. Dabei schauen sie auf die Straße, ihre Blicke eilen vorbeifahrenden Autos nach. Einmal schiebt sich Christa, die Zweitälteste des Orts, mit dem Rollator vorbei. Renate hebt die Hand zum Gruß. Man kennt sich schon ein Leben lang. »Wenn es das Wetter nicht hergibt, ist niemand auf der Straße« sagt Renate, »im Winter ist hier nichts los.«

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Sie hat uns erwartet, denn natürlich hat sie längst davon gehört, dass zwei von außerhalb im Ort unterwegs sind. Und wer was über Thüringenhausen wissen will, der muss zu ihr kommen, haben uns viele gesagt.

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»Ich bin der Dorfsheriff«, sagt sie. Renate heißt fast wie die Kanzlerin. Nur mit g statt einem k. Wenn sie sich am Telefon meldet, hört man das nicht. Dann klingt es wie: »Hier ist Frau Merkel.« »Wie oft die mich schon dafür ausgelacht haben«, sagt sie. Während wir sitzen, schleicht Kater Elvis auf die Veranda. Renate streichelt ihn und gibt ihm den Rest vom Kirmeskuchen.

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Renate ist hier geboren. Der Vater kam spät aus Kriegsgefangenschaft zurück und starb wenige Jahre danach, Wundstarrkrampf nach einem Pferdetritt. Auf dem Sterbebett sagte er: »Ich habe so einen Durst, ich will noch mal Wasser von den Helbequellen trinken«. Neun davon gibt es im Ort. Renate fügt hinzu, dass sie heute nicht mehr daraus trinken würde; die Putenzuchtanlage, die Landwirtschaft, das Nitrit: »Das Wasser trinkt man einfach nicht.« Sie hatte wenig vom Vater gehabt, erst letztes Jahr hat sie sein Grab wegmachen lassen. »Uns hat nie jemand was geschenkt«, sagt sie und legt ihre Hand auf die von Andreas.

Bald feiern sie diamantene Hochzeit. Sechzig Jahre Zweisamkeit bedeutet das. Mit fünfzehn kamen sie zusammen. Kennen lernten sie sich auf dem Maskenball. »Die da mit den dicken Schenkeln, die wird mal meine Frau« sagte Andreas. Als sie später durch die Tännerchen gingen, küssten sie sich an jedem Baum.

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Anfangs waren es schwere Zeiten. Oft flog das Geschirr. Andreas war viel unterwegs. Renate nähte in Heimarbeit, bis in die Nacht dauerte das. »Wenn es uns am dreckigsten ging, haben wir am stärksten zusammengehalten«, sagt sie, »denn so war das damals. Heute laufen sie gleich auseinander.«

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Andreas stammt aus Kroatien. Früher arbeitete er im Sommer für die LPG und im Winter machte er Hausschlachtungen. Er hat Wilfried das Handwerk beigebracht. Andreas ist krank, er spricht kaum. »Er ist der Einzige aus seiner Familie, der noch lebt. Weil ich ihn gepflegt habe«, sagt Renate. Sie steht auf, holt von drinnen eine Strickjacke für Andreas, zieht sie ihm an, tätschelt seine Hand. Abends, beim Schlafengehen, streichelt sie seine Ohrläppchen, »Gute Nacht, mein Schätzchen« sagt sie dann.

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Ihre Kinder wohnen in der Nähe, die Tochter nur ein paar Häuser weiter. Regelmäßig kommt ihr Enkel Robbie vorbei. »Der ist ein richtig Guter«, sagt Renate. Und gerade, als wir gehen wollen, treffen wir ihn. Er hat einen Eimer voll Erde dabei, er will seiner Großmutter helfen. Nicht wir ihn, sondern er spricht uns an, freundlich, will wissen, was uns in den Ort verschlagen hat. Eine Zeitlang hat er bei seinem Vater im indischen Restaurant in einer kleinen Stadt gearbeitet. Aber das war nichts für ihn. Er will auf dem Dorf leben.

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Er wohnt bei seiner Mutter. Sie verkauft Selbstgebackenes übers Internet. Das Geschäft läuft gut, sie muss viele Bleche ansetzen. Als der Erbsbär dieses Jahr vor der Tür stand, war sie entsetzt: »Ich öffne die Tür und da schauen mich so zwei schwarze Löcher an. Das war nicht mehr mein Bär.« Die Freundin musste dann mit dem Bären tanzen.

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Die Straße gegenüber wohnen Ralf und Uschi. Wir sitzen in ihrer Küche, nebenan das Wohnzimmer ist voll von Geschenken. Ralf hat vor wenigen Tagen seinen Siebzigsten gefeiert. Ein großes Fest, das mehrere Tage dauerte. Sie waren Bürgermeisterin und Bürgermeister; Uschi direkt nach der Wende, als das noch ein Beruf war und kein Ehrenamt. Ralf ist heute Bürgermeister.

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Eine der großen Fragen, die ihn umtreiben, ist das Geld. Sieben Thüringenhäuser Kinder gehen in die Kita. Für jeden Platz zahlt der Ort mehrere hundert Euro im Monat. Gewerbesteuern kommen nur vom ortsansässigen Zimmermann. Anders gesagt: Ein Großteil des Budgets geht für die Kinderbetreuung drauf. »Grundsteuer kannst du nicht erhöhen, da brennen die Leute hier das Dorf ab«, sagt Ralf und fügt hinzu, dass die Politiker in der Stadt das Leben auf dem Land kaputt machen wollen. Er spricht vom Druck, der auf die Gemeinden ausgeübt wird durch Streichung von Zuweisungen. »Die wollen keine kleinen Dörfer. Alle sollen in die Städte ziehen.«

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Für einen Moment halten wir inne und stellen uns ein Land vor, in dem alle Menschen in Städten wohnen. »Am besten nahe der Autobahn Halle-Erfurt«, sagt Ralf dann, »Und das Land dahinter wird zum Naturschutzgebiet erklärt, weil das weniger kostet.« Er lacht, es klingt bitter. Es bleibt ungeklärt, wer mit »die« gemeint ist, die, die keine Dörfer wollen; sind es Entscheidungsträger, Leute, die nicht vom Land kommen und das Leben hier kennen oder muss »die« unbestimmt bleiben, um einen solchen Satz überhaupt sagen zu können?

»Das Dorf muss leben«, ruft Ralf dann. Und das geht nur, wenn Arbeitsplätze in der Nähe sind. Aber die würden nicht im ländlichen Raum gebaut, sondern bei den Zentren. Deshalb ziehen die Leute dorthin, nach Erfurt, nach Jena, aber nicht in den Kyffhäuserkreis. Überhaupt die Arbeit: Viele arbeiten in Schichten oder sind die Woche über auf Montage. Wenn die nach Hause kommen, haben sie den Kopf voll und wollen nicht mehr viel vom Dorf wissen; einfach das Hoftor hinter sich schließen. Dazu kommt die Existenzangst, wie Ralf sagt, der Druck, der auf die arbeitende Bevölkerung ausgeübt wird, das führt letztlich zu Egoismus und Neid.

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Ralf tut viel für den Ort. Es gibt keinen Straßendienst. Mit dem Traktor kehrt er die Straße, mit der Kettensäge kümmert er sich um die Bäume. An seiner Seite ist ein Ein-Euro-Jobber, der »Adjutant«. Der wohnt oben im Krug, Ralf hat ihm dort eine Wohnung zurechtgemacht.

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Nach der Wende arbeiteten sechs Frauen, denen in der Landwirtschaft gekündigt war, als ABM-Kräfte. Manche im Ort gewöhnten sich leicht daran, dass andere das Dorf sauber machten. Als die ABM-Stellen ausliefen, fehlte das dann. Zu DDR-Zeiten, sagen Ralf und Uschi, war das anders, da gab es Interesse am Ort, da weidete das Vieh im Straßengraben und es wurde gemäht. Das Dorf war ordentlicher.

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Uschi ist Chefin der Ortsgruppe des Roten Kreuz. Einmal im Monat veranstaltet sie den Rentnertreff im Krug; es gibt Kaffee und Kuchen und ein Schnäpschen zu trinken. Die Tischdekoration gestaltet sie je nach Saison. Im Sommer legte sie Muscheln aus, im August, zum Schulanfang, kleine Zuckertüten, im Herbst bunte Blätter und Kastanien.

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Uschi engagiert sich in vielen Bereichen. Besonders die Kirche liegt ihr am Herzen. Weil die Pfarrerinnen über zwanzig Gemeinden betreuen und deshalb wenig Zeit haben, übernimmt Uschi Predigten in Thüringenhausen. Ralf sieht das skeptisch, sagt, die würden sie ausnutzen. Aber Uschi macht das gern. Sie stammt aus einem nichtreligiösen Haus, zur Kirche ist sie durch Ralfs Familie gekommen. Auch die Weihnachtsandacht hält sie. Kürzlich hat sie ein Orgelkonzert organisiert, ein Thüringenhäuser, der bald nach Wien zum Musikstudium gehen wird, hat gespielt. Der Zuspruch war groß, Uschi würde das gern wiederholen.

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Die beiden führen uns über ihr Anwesen. Ralf hat den Hof von den Eltern übernommen; ein großes Grundstück mit großer Scheune, dahinter die Wiese, die bis zur Helbe reicht und auf der sie Weihnachtsbäume gepflanzt haben. Vier Jahre wachsen die, bis sie gefällt werden. Äpfel gibt es so viele, dass die in Kisten verfaulen. An den Walnussbäumen biegen sich die Zweige unter den Früchten, wir dürfen pflücken und mitnehmen, so viel wir wollen.

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»Alles Geld, was ich verdient habe, habe ich ins Haus gesteckt. Ein Leben lang habe ich gebaut und repariert. Und für was? Das macht mich traurig«, sagt Ralf. Der Sohn lebt in Erfurt, er wird nicht zurückkommen. Wenn es nicht mehr geht, werden sie das Haus verkaufen und in eine Stadtwohnung ziehen müssen. Uschi sagt, dass sie nicht glaubt, dass Ralf ein Leben dort aushalten könnte, jemand, der immer auf dem Dorf gewesen ist.

Die Stimmung ist gedrückt. Was denn Gutes geschehen sei, fragen wir. Die Straßenbeleuchtung ist neu gemacht, mit LED, das spart viel Strom und dadurch Geld. Die Fußwege sind in Ordnung und das Glasfaserkabel bringt Internet, im Nachbardorf gibt es nicht mal ein Handynetz.

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Und dann ist da natürlich noch der Erbsbär. Wobei Ralf und Uschi ehrlich erstaunt sind über unsere Begeisterung. Für sie ist das etwas Normales, der Bär gehört einfach zu. Sie holen alte Fotos. Schwarzweiße, leicht verschwommene Aufnahmen, auf denen eine Strohgestalt durch das historische Dorf läuft. Auf einem Bild steht der Bär neben einem Pferd. Auf dem sollte der Bär reiten, am nächsten Tag war das Pferd tot, Altersschwäche. Früher gab es oft Waschkörbe voll mit Spenden wie Selbstgebrannten oder Frischgeschlachtetes.

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Ralf hat zwei Mal den Bären gemacht. »Das ist schon ein schöner Brauch, da freuen sich alle im Dorf, da sind alle zusammen«, sagt er und erzählt von den anderen Festen, die sie hier haben; Maifeuer, Wasserfest, Weihnachtsbaumweitwerfen.

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Als das Gespräch schon vorbei ist und wir am Verabschieden sind, fügt er noch etwas an: »Eigentlich dürfte ich das jetzt nicht sagen.« Er erzählt, dass Thüringenhausen plant, die Eigenständigkeit aufzugeben. Es gibt Gespräche mit dem Bürgermeister von Ebeleben, der größeren Nachbargemeinde. 1992 wäre es fast schon einmal zu einem Zusammenschluss gekommen. Diesmal soll es endgültig sein. Von offizieller Seite gibt es pro Einwohner eine Prämie für die Fusion, Geld, mit dem dringende Anschaffungen gemacht werden können. Bevor es soweit ist, wollen sie hier bestimmte Sachen festschreiben, etwa, dass der Dorfkrug immer für die Gemeinde zur Verfügung steht.

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Es ist zu sehen, dass Ralf hin- und her gerissen ist. Die Prämie ist lächerlich klein im Vergleich zu dem, was dafür aufgegeben wird. Aber er wirkt auch müde, erschöpft vom vielen Kämpfen, dem ständigen Improvisieren und Stopfen von finanziellen Löchern. Verantwortung abgeben heißt auch, den Kopf frei für andere Dinge zu bekommen. Den neuen Posten des Ortsvorstehers würde er nicht mehr übernehmen.

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Als wir fahren, dämmert es in Thüringenhausen. Hinter den Hoftoren bellen immer noch die Hunde. Der Himmel hinter dem Kirchturm färbt sich blutrot. Auf der Gänsewiese, wo keine Zugvögel mehr landen, ist der Waschbär. Wenige Wochen später wird es offiziell: Thüringenhausen geht mit Ebeleben zusammen. Bald wird es keinen Bürgermeister mehr geben, keine Eigenständigkeit. Eine Hauptstadt wird Thüringenhausen nicht mehr sein.